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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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heit und von Zügellostgkeit der Phantasie, von Herzlosigkeit und Aberglauben,
von Frivolität und Gespensterfurcht hat kein anderer Dichter auszuweisen. Wenn
unser Hoffmann sich in seinen Visionen von Teufel" und Gespenstern ergeht, so
ist er selber im Zustand des momentanen Wahnsinns oder der Betrunkenheit.
Ainsworth dagegen bleibt auch den wahnsinnigen Erscheinungen gegenüber der
trockenste Pragmatiker. Er ist wie der Anatom an seine Leichen gewöhnt, und
sie erregen ihm kein Grauen mehr. Von wirklichen Menschen ist bei ihm keine
Rede. Abgesehen von einigen komischen Nebenfiguren, die nicht besonders zu
rühmen sind, sieht der Eine genau so aus wie der Andere, Alle gleich herzlos,
gleich egoistisch, ohne irgend eine jener sittlichen Voraussetzungen, die auch schon
zur psychologischen Wahrheit unbedingt nothwendig sind. Während die sinnliche
Natur bei ihm mit dem scharfen Licht einer ombre eliinvise wiedergegeben wird,
macht die eigentliche Geschichte den Eindruck eines Fiebertraums. Im Traume,
wo die hoher" Functionen des Geistes aufhören, finden wir uns Alle als feig,
boshaft, i" besta"tigem Entsetzen, wir jagen mit hexenartiger Gcschwilidigkeit
einem unbekannten Ziele nach, durch Mauern und Wälder, es giebt keine feste
Realität, die unsern Flug aufhalten könnte, und doch bewegen wir uns im Kreise,
und sehen uns plötzlich an den alten Ort des Grauens zurückversetzt, wo dann
das frühere Entsetzen uns von Neuem von dannen peitscht. Wir verwandeln uns
willkürlich in andere Personen, der Ermordete in den Mörder, wir verlieren
den Begriff des Unterschiedes, weil wir den Kern unsrer Persönlichkeit verloren
haben. -- Daß diese wüste Welt mit einem wirklichen Talent wiedergegeben ist,
und daß sie einen so großen Anklang gefunden hat, daß eine nicht unbedeutende
Anzahl von Dichtern sich dieser Richtung angeschlossen haben, bei einem Volk,
welches gerade wegen seines gesunden praktischen Sinnes berühmt ist, gehört zu
den bedenklichen Zeichen für die Geschmacksverirrung unsrer Zeit.

Ainsworth ist 1805 zu Manchester geboren. Er machte in seiner Jugend
allerlei Versuche, trat bei einem Sachwalter ein, schrieb Komödien, ließ sich auf
buchhäudlcrische Speculationen ein und ging dann einige Zeit ans Reisen. Nach
seiner Rückkehr schrieb er im Jahre 183i den ersten Roman, der Glück machte:
Nvokwvvd. Der Roman gehört in die Klasse der Schauergeschichten, wie
sie eine ihrer Zeit gefeierte Dichterin, Miß Anna Ratcliffe (geboren 1764, ge¬
storben 1823), dem Englischen Publicum erzählt hat. Die Geschichte fängt in
einem Grabe an, ein Todtengräber setzt seine Philosophie ans einander, die nicht
allein durch einige umherliegende Leichen, sondern auch durch Gespenster, die
gegen alle Convenienz gleich in der ersten Scene auftreten, bekräftigt wird.
Dieses Gespensterwesen zieht sich durch deu ganzen Roman, und die Gespenster
bewegen sich so natürlich nnter den übrigen Figuren, daß man sie kaum von
denselben unterscheiden kann. Es ist das übrigens in der Englischen Literatur
nichts Seltenes. Die Engländer haben bei allem gesundem Verstand eine ge-


heit und von Zügellostgkeit der Phantasie, von Herzlosigkeit und Aberglauben,
von Frivolität und Gespensterfurcht hat kein anderer Dichter auszuweisen. Wenn
unser Hoffmann sich in seinen Visionen von Teufel» und Gespenstern ergeht, so
ist er selber im Zustand des momentanen Wahnsinns oder der Betrunkenheit.
Ainsworth dagegen bleibt auch den wahnsinnigen Erscheinungen gegenüber der
trockenste Pragmatiker. Er ist wie der Anatom an seine Leichen gewöhnt, und
sie erregen ihm kein Grauen mehr. Von wirklichen Menschen ist bei ihm keine
Rede. Abgesehen von einigen komischen Nebenfiguren, die nicht besonders zu
rühmen sind, sieht der Eine genau so aus wie der Andere, Alle gleich herzlos,
gleich egoistisch, ohne irgend eine jener sittlichen Voraussetzungen, die auch schon
zur psychologischen Wahrheit unbedingt nothwendig sind. Während die sinnliche
Natur bei ihm mit dem scharfen Licht einer ombre eliinvise wiedergegeben wird,
macht die eigentliche Geschichte den Eindruck eines Fiebertraums. Im Traume,
wo die hoher» Functionen des Geistes aufhören, finden wir uns Alle als feig,
boshaft, i» besta»tigem Entsetzen, wir jagen mit hexenartiger Gcschwilidigkeit
einem unbekannten Ziele nach, durch Mauern und Wälder, es giebt keine feste
Realität, die unsern Flug aufhalten könnte, und doch bewegen wir uns im Kreise,
und sehen uns plötzlich an den alten Ort des Grauens zurückversetzt, wo dann
das frühere Entsetzen uns von Neuem von dannen peitscht. Wir verwandeln uns
willkürlich in andere Personen, der Ermordete in den Mörder, wir verlieren
den Begriff des Unterschiedes, weil wir den Kern unsrer Persönlichkeit verloren
haben. — Daß diese wüste Welt mit einem wirklichen Talent wiedergegeben ist,
und daß sie einen so großen Anklang gefunden hat, daß eine nicht unbedeutende
Anzahl von Dichtern sich dieser Richtung angeschlossen haben, bei einem Volk,
welches gerade wegen seines gesunden praktischen Sinnes berühmt ist, gehört zu
den bedenklichen Zeichen für die Geschmacksverirrung unsrer Zeit.

Ainsworth ist 1805 zu Manchester geboren. Er machte in seiner Jugend
allerlei Versuche, trat bei einem Sachwalter ein, schrieb Komödien, ließ sich auf
buchhäudlcrische Speculationen ein und ging dann einige Zeit ans Reisen. Nach
seiner Rückkehr schrieb er im Jahre 183i den ersten Roman, der Glück machte:
Nvokwvvd. Der Roman gehört in die Klasse der Schauergeschichten, wie
sie eine ihrer Zeit gefeierte Dichterin, Miß Anna Ratcliffe (geboren 1764, ge¬
storben 1823), dem Englischen Publicum erzählt hat. Die Geschichte fängt in
einem Grabe an, ein Todtengräber setzt seine Philosophie ans einander, die nicht
allein durch einige umherliegende Leichen, sondern auch durch Gespenster, die
gegen alle Convenienz gleich in der ersten Scene auftreten, bekräftigt wird.
Dieses Gespensterwesen zieht sich durch deu ganzen Roman, und die Gespenster
bewegen sich so natürlich nnter den übrigen Figuren, daß man sie kaum von
denselben unterscheiden kann. Es ist das übrigens in der Englischen Literatur
nichts Seltenes. Die Engländer haben bei allem gesundem Verstand eine ge-


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[0117] heit und von Zügellostgkeit der Phantasie, von Herzlosigkeit und Aberglauben, von Frivolität und Gespensterfurcht hat kein anderer Dichter auszuweisen. Wenn unser Hoffmann sich in seinen Visionen von Teufel» und Gespenstern ergeht, so ist er selber im Zustand des momentanen Wahnsinns oder der Betrunkenheit. Ainsworth dagegen bleibt auch den wahnsinnigen Erscheinungen gegenüber der trockenste Pragmatiker. Er ist wie der Anatom an seine Leichen gewöhnt, und sie erregen ihm kein Grauen mehr. Von wirklichen Menschen ist bei ihm keine Rede. Abgesehen von einigen komischen Nebenfiguren, die nicht besonders zu rühmen sind, sieht der Eine genau so aus wie der Andere, Alle gleich herzlos, gleich egoistisch, ohne irgend eine jener sittlichen Voraussetzungen, die auch schon zur psychologischen Wahrheit unbedingt nothwendig sind. Während die sinnliche Natur bei ihm mit dem scharfen Licht einer ombre eliinvise wiedergegeben wird, macht die eigentliche Geschichte den Eindruck eines Fiebertraums. Im Traume, wo die hoher» Functionen des Geistes aufhören, finden wir uns Alle als feig, boshaft, i» besta»tigem Entsetzen, wir jagen mit hexenartiger Gcschwilidigkeit einem unbekannten Ziele nach, durch Mauern und Wälder, es giebt keine feste Realität, die unsern Flug aufhalten könnte, und doch bewegen wir uns im Kreise, und sehen uns plötzlich an den alten Ort des Grauens zurückversetzt, wo dann das frühere Entsetzen uns von Neuem von dannen peitscht. Wir verwandeln uns willkürlich in andere Personen, der Ermordete in den Mörder, wir verlieren den Begriff des Unterschiedes, weil wir den Kern unsrer Persönlichkeit verloren haben. — Daß diese wüste Welt mit einem wirklichen Talent wiedergegeben ist, und daß sie einen so großen Anklang gefunden hat, daß eine nicht unbedeutende Anzahl von Dichtern sich dieser Richtung angeschlossen haben, bei einem Volk, welches gerade wegen seines gesunden praktischen Sinnes berühmt ist, gehört zu den bedenklichen Zeichen für die Geschmacksverirrung unsrer Zeit. Ainsworth ist 1805 zu Manchester geboren. Er machte in seiner Jugend allerlei Versuche, trat bei einem Sachwalter ein, schrieb Komödien, ließ sich auf buchhäudlcrische Speculationen ein und ging dann einige Zeit ans Reisen. Nach seiner Rückkehr schrieb er im Jahre 183i den ersten Roman, der Glück machte: Nvokwvvd. Der Roman gehört in die Klasse der Schauergeschichten, wie sie eine ihrer Zeit gefeierte Dichterin, Miß Anna Ratcliffe (geboren 1764, ge¬ storben 1823), dem Englischen Publicum erzählt hat. Die Geschichte fängt in einem Grabe an, ein Todtengräber setzt seine Philosophie ans einander, die nicht allein durch einige umherliegende Leichen, sondern auch durch Gespenster, die gegen alle Convenienz gleich in der ersten Scene auftreten, bekräftigt wird. Dieses Gespensterwesen zieht sich durch deu ganzen Roman, und die Gespenster bewegen sich so natürlich nnter den übrigen Figuren, daß man sie kaum von denselben unterscheiden kann. Es ist das übrigens in der Englischen Literatur nichts Seltenes. Die Engländer haben bei allem gesundem Verstand eine ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/117>, abgerufen am 02.07.2024.