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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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bei Sealsfield mit der Gewohnheit unsrer wirklichen Anschauung. Wir sehen
dort so ungeheuer viel Einzelheiten hervorgehoben, das; der Gesammteindruck ver-
chwindet, und daß wir nur im Stande sind, die Sonderbarkeiten zu combiniren,
woraus natürlich ein groteskes, verzerrtes Gesicht entsteht. Den natürlichen Men¬
schen interessirt in dem Gesicht der Andern, auch, wenn er verliebt ist, nur der
Auodrnck; in diesem Virtuosenthum dagegen gehört die Physiognomie nicht der
Seele an, sondern sie ist ein integrirender Theil jener allgemeinen Natur, die in
glänzenden und schreienden Farben, in einem wunderbaren Labyrinth kabbalistischer
Linien uns anschaut. Die umständliche Schilderung von Landschaften, von Ruinen,
von Luxusgegenständen, von verborgenen Gängen und dergleichen macht nur den
Anfang. Der eigentliche Virtuos wird erst da froh, wo er die gesammte Natur
in eine schwindelnde Bewegung setzen kaun, wo alle Elemente wie im Wahnsinn
mit einander ringen, und wo der Mensch nur noch ein Atom ist, ein recht- und
selbstloses Atom in dem fieberhaften Zittern der Naturgewalt. Wie jede Virtuo¬
sität, hat auch diese ihr bedingtes Recht. Wenn z. B. Leopold Schefer in
einer seiner Novellen einen jungen Mann auf das Kreuz an der Kuppel der
Peterskirche steigen, ihn dort vom Schwindel befallen läßt, und diesen Schwindel
durch die Angst eiuer fürchterlichen Nacht hindurch verfolgt, so können wir
uns nicht erwehren, in unserm ganzen Nervensystem dnrch diese Darstellung
krampfhaft erschüttert zu werden. Der Künstler erreicht vollständig seinen Zweck,
aber wir werden uns nachher sagen müssen, daß unsre Aufregung eine ungesunde
war, und daß die Kunst von ihrer wahren Idee abgefallen ist. Genau Dasselbe
gilt von solchen Schilderungen, wie sie Sealsfield z. B. in seinem "Süden und
Norden" von dem Gewitterregen, von dem Mexicanischen Fieber und dergleichen
giebt. Wenn der Geist vollständig den ungeistigeu Mächten anheimfällt, so hat
eigentlich die Poesie Nichts mehr damit zu thun. Aber hier sehen wir wenigstens
noch immer das ängstliche Bemühen des Geistes, sich selbst wiederzufinden. Er
kämpft mir einer unschönen Angst wie in einem kranken Traum gegen die dämo¬
nischen Gewalten, die ihn vernichten wollen. Bei mehrern der neuen Franzosen
dagegen ist anch diese letzte Spur der Seele verloren gegangen; wir haben nur
noch das Fleisch, das unter dem Messer und dem Rade des Folterers zuckt und
bebt, das von der Pest oder der Cholera stückweise in Fäulniß verwandelt wird,
und unsre Theilnahme wird eine blos sinnliche, eine befangene, wir athmen den
üblen Geruch des anatomischen Cabinets oder des Hospitals, in dem Pestkranke
aufgehäuft liegen. -- Am Häßlichsten wird dieser Materialismus, wenn noch die
Lüsternheit hinzukommt, wenn die thierische Brunst in ihrer Wildheit ungescheut
an das Licht des Tages tritt.

Ainsworth hat dadurch seine Stellung in der Literatur, daß er diesen Mate¬
rialismus, vou allen Nebensachen getrennt, bis zu einer Fertigkeit gebracht hat,
die in ihrer Art Anerkennung verdient. Eine solche Verbindung von Nüchtern-


bei Sealsfield mit der Gewohnheit unsrer wirklichen Anschauung. Wir sehen
dort so ungeheuer viel Einzelheiten hervorgehoben, das; der Gesammteindruck ver-
chwindet, und daß wir nur im Stande sind, die Sonderbarkeiten zu combiniren,
woraus natürlich ein groteskes, verzerrtes Gesicht entsteht. Den natürlichen Men¬
schen interessirt in dem Gesicht der Andern, auch, wenn er verliebt ist, nur der
Auodrnck; in diesem Virtuosenthum dagegen gehört die Physiognomie nicht der
Seele an, sondern sie ist ein integrirender Theil jener allgemeinen Natur, die in
glänzenden und schreienden Farben, in einem wunderbaren Labyrinth kabbalistischer
Linien uns anschaut. Die umständliche Schilderung von Landschaften, von Ruinen,
von Luxusgegenständen, von verborgenen Gängen und dergleichen macht nur den
Anfang. Der eigentliche Virtuos wird erst da froh, wo er die gesammte Natur
in eine schwindelnde Bewegung setzen kaun, wo alle Elemente wie im Wahnsinn
mit einander ringen, und wo der Mensch nur noch ein Atom ist, ein recht- und
selbstloses Atom in dem fieberhaften Zittern der Naturgewalt. Wie jede Virtuo¬
sität, hat auch diese ihr bedingtes Recht. Wenn z. B. Leopold Schefer in
einer seiner Novellen einen jungen Mann auf das Kreuz an der Kuppel der
Peterskirche steigen, ihn dort vom Schwindel befallen läßt, und diesen Schwindel
durch die Angst eiuer fürchterlichen Nacht hindurch verfolgt, so können wir
uns nicht erwehren, in unserm ganzen Nervensystem dnrch diese Darstellung
krampfhaft erschüttert zu werden. Der Künstler erreicht vollständig seinen Zweck,
aber wir werden uns nachher sagen müssen, daß unsre Aufregung eine ungesunde
war, und daß die Kunst von ihrer wahren Idee abgefallen ist. Genau Dasselbe
gilt von solchen Schilderungen, wie sie Sealsfield z. B. in seinem „Süden und
Norden" von dem Gewitterregen, von dem Mexicanischen Fieber und dergleichen
giebt. Wenn der Geist vollständig den ungeistigeu Mächten anheimfällt, so hat
eigentlich die Poesie Nichts mehr damit zu thun. Aber hier sehen wir wenigstens
noch immer das ängstliche Bemühen des Geistes, sich selbst wiederzufinden. Er
kämpft mir einer unschönen Angst wie in einem kranken Traum gegen die dämo¬
nischen Gewalten, die ihn vernichten wollen. Bei mehrern der neuen Franzosen
dagegen ist anch diese letzte Spur der Seele verloren gegangen; wir haben nur
noch das Fleisch, das unter dem Messer und dem Rade des Folterers zuckt und
bebt, das von der Pest oder der Cholera stückweise in Fäulniß verwandelt wird,
und unsre Theilnahme wird eine blos sinnliche, eine befangene, wir athmen den
üblen Geruch des anatomischen Cabinets oder des Hospitals, in dem Pestkranke
aufgehäuft liegen. — Am Häßlichsten wird dieser Materialismus, wenn noch die
Lüsternheit hinzukommt, wenn die thierische Brunst in ihrer Wildheit ungescheut
an das Licht des Tages tritt.

Ainsworth hat dadurch seine Stellung in der Literatur, daß er diesen Mate¬
rialismus, vou allen Nebensachen getrennt, bis zu einer Fertigkeit gebracht hat,
die in ihrer Art Anerkennung verdient. Eine solche Verbindung von Nüchtern-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/116>, abgerufen am 02.07.2024.