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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Englische Novellisten.')
Harrison Ainsworth.

Die Poesie hatte seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die gefährliche
Neigung, sich mit einseitigem Spiritualismus in die Tiefen des Herzens zu ver¬
senken, die Geheimnisse der Seele zu belauschen und darüber die Aufmerksamkeit
ans das wirkliche, äußerliche Leben und auf die sinnliche Natur vollständig zu ver¬
lieren. Diese forcirte Richtung hat auf der einen Seite zu jener stoffloser Em¬
pfindsamkeit geführt, die ungefähr wie bei den Pietisten und Herrnhntern des
vorigen Jahrhunderts durch übergroßes Raffinement die Gesundheit und Wahrheit
der Empfindung untergrub, aus der andern Seile hat sie eine Reaction hervor¬
gerufen, die sich in das entgegengesetzte Extrem des seelenlosen Materialismus
verlor. Wenn man aus der einen Seite Nichts weiter erhielt, als Seufzer, Ahnen
und Sehnen, zerrissene Herzen und überspannte Kopfe, oder, was in dieselbe
Kategorie gehört, Originale, deren Empfinden sich so ganz auf die eigene Indivi¬
dualität concentrirte, daß trotz aller detaillirteu Schilderung Niemand ein Verständniß
dafür haben konnte, so ist aus der andern Seite die Seele in der fieberhaften
Bewegung der Natur untergegangen, in dem Menschen zittert nnr der sinnliche
Nerv, und der Anatom tritt an die Stelle des Psychologen. Der bei Weitem
größere Theil der neuern Romantik findet seine Erklärung in dieser materialistischen
Tendenz. Es ist beiläufig in den andern Künsten der nämliche Fall. Der Sen¬
timentalität in der Malerei, wie sie z. B. in der Düsseldorfer Schule herrschend
war, ist jene Virtuosität der Landschaftsmalerei gegenübergetreten, die über dem
sinnlichen Detail das geistige Moment der Kunst allmählich ganz aus den Angen
verliert, und in der Musik ist die hinsterbende Sehnsucht des Gesanges durch die
Massenwirkung der modernen Jnstrumentation abgelöst worden. In der Poesie
bietet natürlich der Roman die beste Gelegenheit, dieses Virtuosenthum des Ma¬
terialismus auszuüben. Es ist aber auch im Drama und selbst in der Lyrik ver¬
sucht worden. Wenn wir die Charakterbildung bei Victor Hugo und seiner Schule
näher ins Auge fassen, so ist die erste Grundlage derselben immer das Costum
und die körperliche Beschaffenheit, und je detaillirtcr diese Eigenthümlichkeiten aus¬
geführt werden, desto weniger Raum bleibt für den eigentlichen Kern des Men¬
schen, für die Jntegrität seiner Seele übrig; sobald aber dieses belebende Element
fehlt, verlieren sich die Charaktere ins Monströse und Fratzenhafte, ja man kann
sagen, daß selbst die äußerliche Physiognomie durch übertriebene Farbenmischung
ihren Sinn verliert. Man vergleiche z. B. irgend ein Portrait bei Balzac oder



Vergl, Dickens -1861. I.". P. -I6-I--172.
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Englische Novellisten.')
Harrison Ainsworth.

Die Poesie hatte seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die gefährliche
Neigung, sich mit einseitigem Spiritualismus in die Tiefen des Herzens zu ver¬
senken, die Geheimnisse der Seele zu belauschen und darüber die Aufmerksamkeit
ans das wirkliche, äußerliche Leben und auf die sinnliche Natur vollständig zu ver¬
lieren. Diese forcirte Richtung hat auf der einen Seite zu jener stoffloser Em¬
pfindsamkeit geführt, die ungefähr wie bei den Pietisten und Herrnhntern des
vorigen Jahrhunderts durch übergroßes Raffinement die Gesundheit und Wahrheit
der Empfindung untergrub, aus der andern Seile hat sie eine Reaction hervor¬
gerufen, die sich in das entgegengesetzte Extrem des seelenlosen Materialismus
verlor. Wenn man aus der einen Seite Nichts weiter erhielt, als Seufzer, Ahnen
und Sehnen, zerrissene Herzen und überspannte Kopfe, oder, was in dieselbe
Kategorie gehört, Originale, deren Empfinden sich so ganz auf die eigene Indivi¬
dualität concentrirte, daß trotz aller detaillirteu Schilderung Niemand ein Verständniß
dafür haben konnte, so ist aus der andern Seite die Seele in der fieberhaften
Bewegung der Natur untergegangen, in dem Menschen zittert nnr der sinnliche
Nerv, und der Anatom tritt an die Stelle des Psychologen. Der bei Weitem
größere Theil der neuern Romantik findet seine Erklärung in dieser materialistischen
Tendenz. Es ist beiläufig in den andern Künsten der nämliche Fall. Der Sen¬
timentalität in der Malerei, wie sie z. B. in der Düsseldorfer Schule herrschend
war, ist jene Virtuosität der Landschaftsmalerei gegenübergetreten, die über dem
sinnlichen Detail das geistige Moment der Kunst allmählich ganz aus den Angen
verliert, und in der Musik ist die hinsterbende Sehnsucht des Gesanges durch die
Massenwirkung der modernen Jnstrumentation abgelöst worden. In der Poesie
bietet natürlich der Roman die beste Gelegenheit, dieses Virtuosenthum des Ma¬
terialismus auszuüben. Es ist aber auch im Drama und selbst in der Lyrik ver¬
sucht worden. Wenn wir die Charakterbildung bei Victor Hugo und seiner Schule
näher ins Auge fassen, so ist die erste Grundlage derselben immer das Costum
und die körperliche Beschaffenheit, und je detaillirtcr diese Eigenthümlichkeiten aus¬
geführt werden, desto weniger Raum bleibt für den eigentlichen Kern des Men¬
schen, für die Jntegrität seiner Seele übrig; sobald aber dieses belebende Element
fehlt, verlieren sich die Charaktere ins Monströse und Fratzenhafte, ja man kann
sagen, daß selbst die äußerliche Physiognomie durch übertriebene Farbenmischung
ihren Sinn verliert. Man vergleiche z. B. irgend ein Portrait bei Balzac oder



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[0115] Englische Novellisten.') Harrison Ainsworth. Die Poesie hatte seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die gefährliche Neigung, sich mit einseitigem Spiritualismus in die Tiefen des Herzens zu ver¬ senken, die Geheimnisse der Seele zu belauschen und darüber die Aufmerksamkeit ans das wirkliche, äußerliche Leben und auf die sinnliche Natur vollständig zu ver¬ lieren. Diese forcirte Richtung hat auf der einen Seite zu jener stoffloser Em¬ pfindsamkeit geführt, die ungefähr wie bei den Pietisten und Herrnhntern des vorigen Jahrhunderts durch übergroßes Raffinement die Gesundheit und Wahrheit der Empfindung untergrub, aus der andern Seile hat sie eine Reaction hervor¬ gerufen, die sich in das entgegengesetzte Extrem des seelenlosen Materialismus verlor. Wenn man aus der einen Seite Nichts weiter erhielt, als Seufzer, Ahnen und Sehnen, zerrissene Herzen und überspannte Kopfe, oder, was in dieselbe Kategorie gehört, Originale, deren Empfinden sich so ganz auf die eigene Indivi¬ dualität concentrirte, daß trotz aller detaillirteu Schilderung Niemand ein Verständniß dafür haben konnte, so ist aus der andern Seite die Seele in der fieberhaften Bewegung der Natur untergegangen, in dem Menschen zittert nnr der sinnliche Nerv, und der Anatom tritt an die Stelle des Psychologen. Der bei Weitem größere Theil der neuern Romantik findet seine Erklärung in dieser materialistischen Tendenz. Es ist beiläufig in den andern Künsten der nämliche Fall. Der Sen¬ timentalität in der Malerei, wie sie z. B. in der Düsseldorfer Schule herrschend war, ist jene Virtuosität der Landschaftsmalerei gegenübergetreten, die über dem sinnlichen Detail das geistige Moment der Kunst allmählich ganz aus den Angen verliert, und in der Musik ist die hinsterbende Sehnsucht des Gesanges durch die Massenwirkung der modernen Jnstrumentation abgelöst worden. In der Poesie bietet natürlich der Roman die beste Gelegenheit, dieses Virtuosenthum des Ma¬ terialismus auszuüben. Es ist aber auch im Drama und selbst in der Lyrik ver¬ sucht worden. Wenn wir die Charakterbildung bei Victor Hugo und seiner Schule näher ins Auge fassen, so ist die erste Grundlage derselben immer das Costum und die körperliche Beschaffenheit, und je detaillirtcr diese Eigenthümlichkeiten aus¬ geführt werden, desto weniger Raum bleibt für den eigentlichen Kern des Men¬ schen, für die Jntegrität seiner Seele übrig; sobald aber dieses belebende Element fehlt, verlieren sich die Charaktere ins Monströse und Fratzenhafte, ja man kann sagen, daß selbst die äußerliche Physiognomie durch übertriebene Farbenmischung ihren Sinn verliert. Man vergleiche z. B. irgend ein Portrait bei Balzac oder Vergl, Dickens -1861. I.». P. -I6-I--172. ?. -12-1—.130. — Cooper II. »> i>. i-l—5,8.— W. Scott I. d. p. —-iz, — Bulwer -14*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/115>, abgerufen am 02.07.2024.