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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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wobei sein Antlitz wie in Verzückung sich verklärte, durchaus vortrefflich. Ganz
anders faßt ihn Roger ans. Er geht aus viel geringerer Entfernung auf die
Mutter zu. Dicht all ihr hat er ihren Stolz, den sittlichen Trotz ihrer empörten
Seele noch nicht überwunden. Da überfliegt plötzlich, wie aus finstern Gewölk
ein grüßender Sonnenstrahl, der Ausdruck innigster Liebe die Züge des Sohnes,
die noch eben nnr verläugnende Kälte zeigten, und von Muttergefühl überwältigt
sinkt Fides zu Boden. Es ist eine rein menschliche, eine seelische Macht,
welche sie niederzwingt: das stets wieder hoffende, stets wieder zu täuschende
Mutterherz.

Das Ineinandergreifen von Gesang und Spiel bei höchster Freiheit des
mimischen und dramatischen Ausdruckes macht Roger's eigentliche Stärke aus.
Wo die reine Melodie schwungvoll getragen werden soll, wie in dein Hymnus
am Schluß des dritten Actes ("Herr, Dich in den Sterueukreisen" u. s. w.),
zeigt sich dagegen seine Schwäche. Der Ton giebt jene Fülle nicht her, aus
welcher die Cantilene daherschweben kann, und deö Säugers Manier, die getra¬
gene Musik kurz abzubrechen, geht mit der Eigenthümlichkeit des Tonmaterials
Hand in Hand. Eine eingelegte, sehr lange und sehr geschmacklose Cadcuz ver¬
mochte die mangelnde Begeisterung nicht zu ersetzen.

Mit dem George Brown betrat Roger das Gebiet, auf dem er zuerst den
Beifall der Pariser errang: die komische Oper. Die zwanglos kecke Laune, die
muntere und liebenswürdige Natürlichkeit, welche er dem jungen Ofstcier bei un-
gesucht graziöser Haltung verlieh, gaben der Darstellung einen ungewöhnlichen
Reiz. Das Lied "Ha, welche Lust, Soldat zu sein" horte ich nie mit so fein
nüancirten und doch so gesundem Humor vortrage". Die wahre Jugendlust pul-
strte in allen Tönen, und die liedartige Form gestattete alle Wendungen des mu¬
sikalischen Tempo'S und der mauuichMgsteu Schattirung. Was im tragischen
Gesang mich immer störte, das häufige Falsettircu, ward hier, wo das Pikante
an seiner rechnen Stelle war, zu einer heitern Würze des Genusses. Es ist er¬
staunlich, wie genait Roger seine Mittel kennt, und wie geistvoll er sie zu ver¬
wenden versteht.

Ich müßte ziemlich alle einzelnen Musikstücke der Partie auszählen und zer¬
gliedern, wollte ich alles Gelungene und Interessante der Darstellung hervorheben.
Nur der Vortrag eines einzigen hat mir nicht gefallen, obgleich er den rauschend-
sten Beifall des Publicums errang: in der Arie "O komm, holde Dame" zer¬
schnitt mir der Sänger die zarte, einfach graziöse Melodie zu sehr durch mosaik¬
artiges nuanciren des Details. Die meisten Einzelnheiten waren sein und nett
empfunden, zierlich ausgeführt, dem Ganzen fehlte die Einheit. Um so höher
stand wieder die geistreiche Durchbildung des Recitativs, und außerordentlich schön
sang und spielte der Künstler die Erinnerungsscene des dritten Actes, wo er aus
einzelnen Staccato-Tönen die Melodie und in ihr die beseelende Empfindung


Grenzboten. M. 186-1. 1i

wobei sein Antlitz wie in Verzückung sich verklärte, durchaus vortrefflich. Ganz
anders faßt ihn Roger ans. Er geht aus viel geringerer Entfernung auf die
Mutter zu. Dicht all ihr hat er ihren Stolz, den sittlichen Trotz ihrer empörten
Seele noch nicht überwunden. Da überfliegt plötzlich, wie aus finstern Gewölk
ein grüßender Sonnenstrahl, der Ausdruck innigster Liebe die Züge des Sohnes,
die noch eben nnr verläugnende Kälte zeigten, und von Muttergefühl überwältigt
sinkt Fides zu Boden. Es ist eine rein menschliche, eine seelische Macht,
welche sie niederzwingt: das stets wieder hoffende, stets wieder zu täuschende
Mutterherz.

Das Ineinandergreifen von Gesang und Spiel bei höchster Freiheit des
mimischen und dramatischen Ausdruckes macht Roger's eigentliche Stärke aus.
Wo die reine Melodie schwungvoll getragen werden soll, wie in dein Hymnus
am Schluß des dritten Actes („Herr, Dich in den Sterueukreisen" u. s. w.),
zeigt sich dagegen seine Schwäche. Der Ton giebt jene Fülle nicht her, aus
welcher die Cantilene daherschweben kann, und deö Säugers Manier, die getra¬
gene Musik kurz abzubrechen, geht mit der Eigenthümlichkeit des Tonmaterials
Hand in Hand. Eine eingelegte, sehr lange und sehr geschmacklose Cadcuz ver¬
mochte die mangelnde Begeisterung nicht zu ersetzen.

Mit dem George Brown betrat Roger das Gebiet, auf dem er zuerst den
Beifall der Pariser errang: die komische Oper. Die zwanglos kecke Laune, die
muntere und liebenswürdige Natürlichkeit, welche er dem jungen Ofstcier bei un-
gesucht graziöser Haltung verlieh, gaben der Darstellung einen ungewöhnlichen
Reiz. Das Lied „Ha, welche Lust, Soldat zu sein" horte ich nie mit so fein
nüancirten und doch so gesundem Humor vortrage». Die wahre Jugendlust pul-
strte in allen Tönen, und die liedartige Form gestattete alle Wendungen des mu¬
sikalischen Tempo'S und der mauuichMgsteu Schattirung. Was im tragischen
Gesang mich immer störte, das häufige Falsettircu, ward hier, wo das Pikante
an seiner rechnen Stelle war, zu einer heitern Würze des Genusses. Es ist er¬
staunlich, wie genait Roger seine Mittel kennt, und wie geistvoll er sie zu ver¬
wenden versteht.

Ich müßte ziemlich alle einzelnen Musikstücke der Partie auszählen und zer¬
gliedern, wollte ich alles Gelungene und Interessante der Darstellung hervorheben.
Nur der Vortrag eines einzigen hat mir nicht gefallen, obgleich er den rauschend-
sten Beifall des Publicums errang: in der Arie „O komm, holde Dame" zer¬
schnitt mir der Sänger die zarte, einfach graziöse Melodie zu sehr durch mosaik¬
artiges nuanciren des Details. Die meisten Einzelnheiten waren sein und nett
empfunden, zierlich ausgeführt, dem Ganzen fehlte die Einheit. Um so höher
stand wieder die geistreiche Durchbildung des Recitativs, und außerordentlich schön
sang und spielte der Künstler die Erinnerungsscene des dritten Actes, wo er aus
einzelnen Staccato-Tönen die Melodie und in ihr die beseelende Empfindung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/113>, abgerufen am 02.07.2024.