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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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trug das Seiinge bei, den Ausdruck noch mehr zu versüßet". Die Töne können
der Kehle nicht in freier Folge entströmen, die Cautileue verliert den rein seeli¬
schen Hauch der natürlichen Empfindung, die Melodie wird in gefühlvoll accen-
tuirte und ausgemalte Phrasen aufgelöst. Es ist ein Zerschmelzen ohne den
mnstkalischen Schmelz der Italiener. Der ariosc Theil der Musik sagt dem Sän¬
ger, mit Ausnahme des leicht bewegten und beweglichen Chanson, überhaupt,
vorzugsweise jedoch in der tragischen Oper, weniger zu als das Recitativ. Die
kurzen Ausrufe des Gefühls, die sauft gezogene Bethenrnng der Liebe, die
schnellen und bestimmten Wendungen der Leidenschaft, des Entschlusses, des
Schreckens versteht er mit bewundernswerther Beherrschung der dramatischen Fär¬
bung zu durchgeistigen. Alle Nuancen deö rccitativischcn AortragS, wie der mi¬
mischen Darstellung, sind von charakteristischer Bestimmtheit. Hier ist er unüber¬
troffen, oft unerreicht. Nur giebt er dnrch eine dem Französischen Schauspieler
überhaupt eigene Borliebe, Accent und Bewegung ruck- oder stoßweise vorzutragen,
beiden zuweilen etwas erzwungen Gewaltsames. Hierdurch prägt er in seine
Kunstweise, bei allem Reichthum deö dramatische" Ausdrucks, in Verbindung mit
dein häufigen Wcchsclgcbrauch des Falsetts, den er sogar in Momenten heroischer
Energie nicht völlig entbehren kann, den Stempel einer besondern Manier.

Im vierten Act hob, sich die Darstellung durch deu Contrast der nach Entschlos¬
senheit ringenden Grundstimmung der Seele mit den sie bestürmenden Affecten zu
tief ergreifender Macht. Hier waren die heftig ausgestoßenen Accente durch die
Situation bedingt, die lebhafte Mimik deö Antlitzes steigerte den Eindruck des
Moments, und sogar die einzelnen gezogenen Empsindungsphrasen halfen die
Wirkung durch den Gegensatz des mannichfach^ modulirten Tons verstärken.

Jene Anerkennung Roger's erfuhr durch seinen Propheten eine wesentliche
Steigerung. Im Aeußern trug er sich hier weniger wahr als im Raoul. Weder
Haar uoch Bart, in der zweiten Rolle genau ebenso cveffirt wie in der ersten,
wollten zu dem Niederdeutschen Manne passen. Das innere Leben des Charakters
aber ergriff er in einer Tiefe, die bei einem Opernsänger an das Unerhörte
streift. Bon dem ersten Auftreten an, wo ihn der Traum beschäftigt und in
seiner Seele noch wie ein wunderbares Ereignis? nachzittert, ist der Charakter
eine ununterbrochene Kette von Gemüthsbewegungen, deren Entstehen und Wer¬
den, deren gewaltsamen Ausbruch oder nicht minder gewaltsame Unterdrückung
Roger'ö Spiel in erschütternder Wahrheit an uns vorüberführte. Ich will nur
einen Moment, den Höhepunkt der Rolle, hervorheben. Im vierten Acte, wo
der eben gekrönte Prophet die Mutter verläugnet, als er sie zu Boden zwingt,
um seine Wundernacht öffentlich an ihr zu beweisen, sah ich bisher von allen
Darstellern des Johann unter langsamem Heranschreiten die Bewegung des Mag-
netisirens angewendet, also eine mystische Naturkraft herbeigerufen, um Fides
zum Niederknien zu bewege"/ Tichatschek spielte deu Moment in dieser Auffassung,


trug das Seiinge bei, den Ausdruck noch mehr zu versüßet». Die Töne können
der Kehle nicht in freier Folge entströmen, die Cautileue verliert den rein seeli¬
schen Hauch der natürlichen Empfindung, die Melodie wird in gefühlvoll accen-
tuirte und ausgemalte Phrasen aufgelöst. Es ist ein Zerschmelzen ohne den
mnstkalischen Schmelz der Italiener. Der ariosc Theil der Musik sagt dem Sän¬
ger, mit Ausnahme des leicht bewegten und beweglichen Chanson, überhaupt,
vorzugsweise jedoch in der tragischen Oper, weniger zu als das Recitativ. Die
kurzen Ausrufe des Gefühls, die sauft gezogene Bethenrnng der Liebe, die
schnellen und bestimmten Wendungen der Leidenschaft, des Entschlusses, des
Schreckens versteht er mit bewundernswerther Beherrschung der dramatischen Fär¬
bung zu durchgeistigen. Alle Nuancen deö rccitativischcn AortragS, wie der mi¬
mischen Darstellung, sind von charakteristischer Bestimmtheit. Hier ist er unüber¬
troffen, oft unerreicht. Nur giebt er dnrch eine dem Französischen Schauspieler
überhaupt eigene Borliebe, Accent und Bewegung ruck- oder stoßweise vorzutragen,
beiden zuweilen etwas erzwungen Gewaltsames. Hierdurch prägt er in seine
Kunstweise, bei allem Reichthum deö dramatische» Ausdrucks, in Verbindung mit
dein häufigen Wcchsclgcbrauch des Falsetts, den er sogar in Momenten heroischer
Energie nicht völlig entbehren kann, den Stempel einer besondern Manier.

Im vierten Act hob, sich die Darstellung durch deu Contrast der nach Entschlos¬
senheit ringenden Grundstimmung der Seele mit den sie bestürmenden Affecten zu
tief ergreifender Macht. Hier waren die heftig ausgestoßenen Accente durch die
Situation bedingt, die lebhafte Mimik deö Antlitzes steigerte den Eindruck des
Moments, und sogar die einzelnen gezogenen Empsindungsphrasen halfen die
Wirkung durch den Gegensatz des mannichfach^ modulirten Tons verstärken.

Jene Anerkennung Roger's erfuhr durch seinen Propheten eine wesentliche
Steigerung. Im Aeußern trug er sich hier weniger wahr als im Raoul. Weder
Haar uoch Bart, in der zweiten Rolle genau ebenso cveffirt wie in der ersten,
wollten zu dem Niederdeutschen Manne passen. Das innere Leben des Charakters
aber ergriff er in einer Tiefe, die bei einem Opernsänger an das Unerhörte
streift. Bon dem ersten Auftreten an, wo ihn der Traum beschäftigt und in
seiner Seele noch wie ein wunderbares Ereignis? nachzittert, ist der Charakter
eine ununterbrochene Kette von Gemüthsbewegungen, deren Entstehen und Wer¬
den, deren gewaltsamen Ausbruch oder nicht minder gewaltsame Unterdrückung
Roger'ö Spiel in erschütternder Wahrheit an uns vorüberführte. Ich will nur
einen Moment, den Höhepunkt der Rolle, hervorheben. Im vierten Acte, wo
der eben gekrönte Prophet die Mutter verläugnet, als er sie zu Boden zwingt,
um seine Wundernacht öffentlich an ihr zu beweisen, sah ich bisher von allen
Darstellern des Johann unter langsamem Heranschreiten die Bewegung des Mag-
netisirens angewendet, also eine mystische Naturkraft herbeigerufen, um Fides
zum Niederknien zu bewege»/ Tichatschek spielte deu Moment in dieser Auffassung,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/112>, abgerufen am 02.07.2024.