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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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die Erneuerung mancher von unserm Repertoir verschwundenen Opern möglich
geworden ist. Bellini's Romeo hätte freilich der Vergessenheit anheimfallen können;
aber Gluck's Iphigenia in Antis verdiente eine Wiederbelebung. Diese Oper
steht in dem Ruf, kein besonderes Bühuenglück zu machen; sie ist mehrmals in
Berlin gegeben, aber immer nach ein- oder zweimaliger Aufführung wieder zurück¬
gelegt worden. Daß sie auch diesmal nnr einmal aufgeführt wurde, lag an der
Abreise der Koster, die die Iphigenia gab; hoffentlich wird sie im Winter wieder
in Scene gehen, denn selbst bei der in vieler Beziehung mangelhaften Darstellung
nahm sie sich ans der Bühne ganz stattlich aus, ja ihre dramatische Wirkung
scheint mir großer, als die der Tanrischen Iphigenia. Der Stoff, obschon loser
zusammenhangend, als die andern von Gluck compouirteu Librettis, ist reicher an
ergreifenden und dramatischen Situationen, die zwar einen etwas kurz ausgeführ¬
ten, aber stets sehr treffenden musikalischen Ausdruck gesunde" haben; die Hand¬
lung schreitet rasch vorwärts und die vorkommenden Arien n. s. w. sind aus¬
geführt genug, um sich als besondere Musikstücke geltend zu machen, halten aber
die Entwickelung nicht allzu lauge aus; der Umkreis der darzustellenden Empfindungen
ist viel größer, als in der Tanrischen Iphigenia, in der das Vorherrschen melan¬
cholisch wehmüthiger Stimmungen eine gewisse Monotonie hervorruft; hier herrscht
ein frischer, energischer Ton, der den Hintergrund zu den weichen Empfindungen
der Liebe, des Schmerzes n. f. w. bildet. Leider kamen bei der diesmaligen
Aufführung nnr zwei Rollen einigermaßen zur Geltung, die Iphigenia und die
Klytämnestra; Agamemnon und Achill, zwei eben so wichtige Träger der Oper,
wurden sehr mangelhaft repräsentirt. Krause, der den Agamemnon gab, sang,
wie meistens, mit vollendet schönem Klang der Stimme, aber ohne die Gewalt
der innern Kämpfe, die des Königs Brust durchwühlen, sinnlich darzustellen;
Pfister, ein Tenor, dessen Stimme und Gesang für ein einigermaßen gebildetes
Ohr wahrhaft beleidigend ist, sang den Achill. Er ist in diesem Augenblick der
Einzige, der große Heldentenvrpartien wenigstens in so weit ausführen kann, daß die
Aufführung der Oper möglich ist; so mußte er denn auch die schwierige Rolle
des Achill übernehmen; doch bildete sein tyrvlerartiger Gesang zu der edlen
und energischen Haltung des Helden einen traurigen Contrast. An der mangel¬
haften Ausführung dieser beiden Partien mag anch diesmal vielleicht wieder die
dauernde Einbürgerung der Iphigenie in unser Repertoir scheitern.

Jetzt, unmittelbar vor Thoresschluß, erfreuen wir uns noch eines höchst be¬
deutenden Gastspiels. Roger aus Paris weilt nnter uus, unstreitig einer der
größten dramatischen Sänger der Gegenwart. Es ist eine schon mehrfach ge¬
machte Erfahrung, daß das weibliche Geschlecht dem männlichen im dramatischen
Gesang überlegen ist. Diese Erscheinung kann nnr äußere Gründe haben. Denn
der Natur der Sache nach müßte es gerade umgekehrt sein; die Ursache kann
nur darin liegen, daß unsre Theatersängerinnen im Ganzen einen höhern Grad


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die Erneuerung mancher von unserm Repertoir verschwundenen Opern möglich
geworden ist. Bellini's Romeo hätte freilich der Vergessenheit anheimfallen können;
aber Gluck's Iphigenia in Antis verdiente eine Wiederbelebung. Diese Oper
steht in dem Ruf, kein besonderes Bühuenglück zu machen; sie ist mehrmals in
Berlin gegeben, aber immer nach ein- oder zweimaliger Aufführung wieder zurück¬
gelegt worden. Daß sie auch diesmal nnr einmal aufgeführt wurde, lag an der
Abreise der Koster, die die Iphigenia gab; hoffentlich wird sie im Winter wieder
in Scene gehen, denn selbst bei der in vieler Beziehung mangelhaften Darstellung
nahm sie sich ans der Bühne ganz stattlich aus, ja ihre dramatische Wirkung
scheint mir großer, als die der Tanrischen Iphigenia. Der Stoff, obschon loser
zusammenhangend, als die andern von Gluck compouirteu Librettis, ist reicher an
ergreifenden und dramatischen Situationen, die zwar einen etwas kurz ausgeführ¬
ten, aber stets sehr treffenden musikalischen Ausdruck gesunde» haben; die Hand¬
lung schreitet rasch vorwärts und die vorkommenden Arien n. s. w. sind aus¬
geführt genug, um sich als besondere Musikstücke geltend zu machen, halten aber
die Entwickelung nicht allzu lauge aus; der Umkreis der darzustellenden Empfindungen
ist viel größer, als in der Tanrischen Iphigenia, in der das Vorherrschen melan¬
cholisch wehmüthiger Stimmungen eine gewisse Monotonie hervorruft; hier herrscht
ein frischer, energischer Ton, der den Hintergrund zu den weichen Empfindungen
der Liebe, des Schmerzes n. f. w. bildet. Leider kamen bei der diesmaligen
Aufführung nnr zwei Rollen einigermaßen zur Geltung, die Iphigenia und die
Klytämnestra; Agamemnon und Achill, zwei eben so wichtige Träger der Oper,
wurden sehr mangelhaft repräsentirt. Krause, der den Agamemnon gab, sang,
wie meistens, mit vollendet schönem Klang der Stimme, aber ohne die Gewalt
der innern Kämpfe, die des Königs Brust durchwühlen, sinnlich darzustellen;
Pfister, ein Tenor, dessen Stimme und Gesang für ein einigermaßen gebildetes
Ohr wahrhaft beleidigend ist, sang den Achill. Er ist in diesem Augenblick der
Einzige, der große Heldentenvrpartien wenigstens in so weit ausführen kann, daß die
Aufführung der Oper möglich ist; so mußte er denn auch die schwierige Rolle
des Achill übernehmen; doch bildete sein tyrvlerartiger Gesang zu der edlen
und energischen Haltung des Helden einen traurigen Contrast. An der mangel¬
haften Ausführung dieser beiden Partien mag anch diesmal vielleicht wieder die
dauernde Einbürgerung der Iphigenie in unser Repertoir scheitern.

Jetzt, unmittelbar vor Thoresschluß, erfreuen wir uns noch eines höchst be¬
deutenden Gastspiels. Roger aus Paris weilt nnter uus, unstreitig einer der
größten dramatischen Sänger der Gegenwart. Es ist eine schon mehrfach ge¬
machte Erfahrung, daß das weibliche Geschlecht dem männlichen im dramatischen
Gesang überlegen ist. Diese Erscheinung kann nnr äußere Gründe haben. Denn
der Natur der Sache nach müßte es gerade umgekehrt sein; die Ursache kann
nur darin liegen, daß unsre Theatersängerinnen im Ganzen einen höhern Grad


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/107>, abgerufen am 02.07.2024.