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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Wege ist, sie von der Erreichung des höchsten Zieles durch unmäßige Bewunde¬
rung zurückzuhalten. Johanna Wagner vereint mit einer imponirenden Gestalt
und ausdrucksvollen Gestchtszügcn eine Stimme von bedeutendem Umfang, maje¬
stätischer Fülle und weichem, lieblichem Schmelz. Was namentlich die Fülle der
Stimme betrifft, so soll in Berlin seit Anna Milder etwas Aehnliches nicht
gehört worden sein. Zu voller Gleichmäßigkeit ist die Stimme freilich nicht durch¬
gebildet, denn die tiefen Brusttöne haben zwar einen starken, aber keinen eigent¬
lichen Metallklang, die hohen Kopftöne sind etwas scharf und werden oft mit
Anstrengung hervorgebracht, die Mittellage, die dem Klang nach am Schönsten ist,
bleibt an Kraft hinter den extremen Lagen der Stimme zurück; diesen Mängeln
würde Johanna Wagner durch eine vorsichtigere Behandlung der Stimme abhel¬
fen können. Sie besitzt ferner eine höhere Begabung zum dramatischen Gesang,
aber sie macht von dieser Begabung bis jetzt noch nicht den wahrhaft künstlerischen
und eben so wenig den ihrer Stimme angemessenen Gebrauch. Obschon sie
für die Darstellung weicher, inniger, milder Empfindungen nicht unfähig ist,
so bemüht sie sich doch, Alles nach der Seite des Leidenschaftlichen, Wilden, Dämoni¬
schen hinzuziehen. Die Art und Weise, wie sie das Portament behandelt, beginnt
jetzt schon allgemein im Publicum Anstoß zu erregen; bald wird ihre Neigung zu
starkem Singen, zu heftigen Accenten u. tgi. eben so unangenehm auffallen.
Die höchste Kunstleistung bleibt weder in der ruhigen empfindungslosen Schönheit
stehen, uoch bewegt sie sich allein in den Extremen, sondern sie stellt in sich die
Totalität aller Stimmungen dar. Das Bewußtsein des künstlerischen Maßes,
genane Abwägung der Grade der Leidenschaft, die kluge Berechnung der Gegen¬
sätze, die Bertheilung von Licht und Schatten hat Johanna Wagner uoch nicht
erreicht. Nur ein" von innen heraus gestaltende Phantasie und genaues Studium
jeder Rolle tonnen sie ans den richtigen Weg führen und ihr deu Ruhm einer
Künstlerin sichern, zu der sie jetzt nur die Anlage hat. Zu dem Schönsten, was
ich von ihr hörte, gehört die letzte Arie der Donna Anna, in der sie uns eben
bewies, wie vortrefflich ihr die milden Farben zu Gebote stehen, wenn sie sich
ihrer bedienen will. Ihre Klytämnestra bewegte sich sast nur auf den höchsten
Gipfeln des Hasses, des Entsetzens, des Schmerzes; und wenn ihr auch der
Mythus ein gewisses Recht dazu gab, so gab es ihr doch nicht der Charakter der
Gluck'schen Mustk. Die Gefahr ist für Johanna Wagner um so größer, als bei
der natürlichen Macht ihres Organs alle Uebertreibungen um so stärker hervor¬
treten. Anna Milder saug bekanntlich sehr ausdruckslos und phlegmatisch; sie
wirkte nur dnrch die Macht ihrer Stimme. Aber eben dadurch wurde eine solche
Behandlung der Stimme auch zu einer Nothwendigkeit, und wenn die Wagner
das Mittlere zwischen ihrer jetzigen Richtung und der Richtung der Milder zu
finden weiß, so wird sie das für sie Nichtige getroffen haben. ^- Jedenfalls ist
ihr Engagement ein großer Gewinn für die hiesige Bühne, schon darum, weil nun


Wege ist, sie von der Erreichung des höchsten Zieles durch unmäßige Bewunde¬
rung zurückzuhalten. Johanna Wagner vereint mit einer imponirenden Gestalt
und ausdrucksvollen Gestchtszügcn eine Stimme von bedeutendem Umfang, maje¬
stätischer Fülle und weichem, lieblichem Schmelz. Was namentlich die Fülle der
Stimme betrifft, so soll in Berlin seit Anna Milder etwas Aehnliches nicht
gehört worden sein. Zu voller Gleichmäßigkeit ist die Stimme freilich nicht durch¬
gebildet, denn die tiefen Brusttöne haben zwar einen starken, aber keinen eigent¬
lichen Metallklang, die hohen Kopftöne sind etwas scharf und werden oft mit
Anstrengung hervorgebracht, die Mittellage, die dem Klang nach am Schönsten ist,
bleibt an Kraft hinter den extremen Lagen der Stimme zurück; diesen Mängeln
würde Johanna Wagner durch eine vorsichtigere Behandlung der Stimme abhel¬
fen können. Sie besitzt ferner eine höhere Begabung zum dramatischen Gesang,
aber sie macht von dieser Begabung bis jetzt noch nicht den wahrhaft künstlerischen
und eben so wenig den ihrer Stimme angemessenen Gebrauch. Obschon sie
für die Darstellung weicher, inniger, milder Empfindungen nicht unfähig ist,
so bemüht sie sich doch, Alles nach der Seite des Leidenschaftlichen, Wilden, Dämoni¬
schen hinzuziehen. Die Art und Weise, wie sie das Portament behandelt, beginnt
jetzt schon allgemein im Publicum Anstoß zu erregen; bald wird ihre Neigung zu
starkem Singen, zu heftigen Accenten u. tgi. eben so unangenehm auffallen.
Die höchste Kunstleistung bleibt weder in der ruhigen empfindungslosen Schönheit
stehen, uoch bewegt sie sich allein in den Extremen, sondern sie stellt in sich die
Totalität aller Stimmungen dar. Das Bewußtsein des künstlerischen Maßes,
genane Abwägung der Grade der Leidenschaft, die kluge Berechnung der Gegen¬
sätze, die Bertheilung von Licht und Schatten hat Johanna Wagner uoch nicht
erreicht. Nur ein« von innen heraus gestaltende Phantasie und genaues Studium
jeder Rolle tonnen sie ans den richtigen Weg führen und ihr deu Ruhm einer
Künstlerin sichern, zu der sie jetzt nur die Anlage hat. Zu dem Schönsten, was
ich von ihr hörte, gehört die letzte Arie der Donna Anna, in der sie uns eben
bewies, wie vortrefflich ihr die milden Farben zu Gebote stehen, wenn sie sich
ihrer bedienen will. Ihre Klytämnestra bewegte sich sast nur auf den höchsten
Gipfeln des Hasses, des Entsetzens, des Schmerzes; und wenn ihr auch der
Mythus ein gewisses Recht dazu gab, so gab es ihr doch nicht der Charakter der
Gluck'schen Mustk. Die Gefahr ist für Johanna Wagner um so größer, als bei
der natürlichen Macht ihres Organs alle Uebertreibungen um so stärker hervor¬
treten. Anna Milder saug bekanntlich sehr ausdruckslos und phlegmatisch; sie
wirkte nur dnrch die Macht ihrer Stimme. Aber eben dadurch wurde eine solche
Behandlung der Stimme auch zu einer Nothwendigkeit, und wenn die Wagner
das Mittlere zwischen ihrer jetzigen Richtung und der Richtung der Milder zu
finden weiß, so wird sie das für sie Nichtige getroffen haben. ^- Jedenfalls ist
ihr Engagement ein großer Gewinn für die hiesige Bühne, schon darum, weil nun


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[0106] Wege ist, sie von der Erreichung des höchsten Zieles durch unmäßige Bewunde¬ rung zurückzuhalten. Johanna Wagner vereint mit einer imponirenden Gestalt und ausdrucksvollen Gestchtszügcn eine Stimme von bedeutendem Umfang, maje¬ stätischer Fülle und weichem, lieblichem Schmelz. Was namentlich die Fülle der Stimme betrifft, so soll in Berlin seit Anna Milder etwas Aehnliches nicht gehört worden sein. Zu voller Gleichmäßigkeit ist die Stimme freilich nicht durch¬ gebildet, denn die tiefen Brusttöne haben zwar einen starken, aber keinen eigent¬ lichen Metallklang, die hohen Kopftöne sind etwas scharf und werden oft mit Anstrengung hervorgebracht, die Mittellage, die dem Klang nach am Schönsten ist, bleibt an Kraft hinter den extremen Lagen der Stimme zurück; diesen Mängeln würde Johanna Wagner durch eine vorsichtigere Behandlung der Stimme abhel¬ fen können. Sie besitzt ferner eine höhere Begabung zum dramatischen Gesang, aber sie macht von dieser Begabung bis jetzt noch nicht den wahrhaft künstlerischen und eben so wenig den ihrer Stimme angemessenen Gebrauch. Obschon sie für die Darstellung weicher, inniger, milder Empfindungen nicht unfähig ist, so bemüht sie sich doch, Alles nach der Seite des Leidenschaftlichen, Wilden, Dämoni¬ schen hinzuziehen. Die Art und Weise, wie sie das Portament behandelt, beginnt jetzt schon allgemein im Publicum Anstoß zu erregen; bald wird ihre Neigung zu starkem Singen, zu heftigen Accenten u. tgi. eben so unangenehm auffallen. Die höchste Kunstleistung bleibt weder in der ruhigen empfindungslosen Schönheit stehen, uoch bewegt sie sich allein in den Extremen, sondern sie stellt in sich die Totalität aller Stimmungen dar. Das Bewußtsein des künstlerischen Maßes, genane Abwägung der Grade der Leidenschaft, die kluge Berechnung der Gegen¬ sätze, die Bertheilung von Licht und Schatten hat Johanna Wagner uoch nicht erreicht. Nur ein« von innen heraus gestaltende Phantasie und genaues Studium jeder Rolle tonnen sie ans den richtigen Weg führen und ihr deu Ruhm einer Künstlerin sichern, zu der sie jetzt nur die Anlage hat. Zu dem Schönsten, was ich von ihr hörte, gehört die letzte Arie der Donna Anna, in der sie uns eben bewies, wie vortrefflich ihr die milden Farben zu Gebote stehen, wenn sie sich ihrer bedienen will. Ihre Klytämnestra bewegte sich sast nur auf den höchsten Gipfeln des Hasses, des Entsetzens, des Schmerzes; und wenn ihr auch der Mythus ein gewisses Recht dazu gab, so gab es ihr doch nicht der Charakter der Gluck'schen Mustk. Die Gefahr ist für Johanna Wagner um so größer, als bei der natürlichen Macht ihres Organs alle Uebertreibungen um so stärker hervor¬ treten. Anna Milder saug bekanntlich sehr ausdruckslos und phlegmatisch; sie wirkte nur dnrch die Macht ihrer Stimme. Aber eben dadurch wurde eine solche Behandlung der Stimme auch zu einer Nothwendigkeit, und wenn die Wagner das Mittlere zwischen ihrer jetzigen Richtung und der Richtung der Milder zu finden weiß, so wird sie das für sie Nichtige getroffen haben. ^- Jedenfalls ist ihr Engagement ein großer Gewinn für die hiesige Bühne, schon darum, weil nun

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/106>, abgerufen am 02.07.2024.