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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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zen Muth ein, ihm nachzutrachten. In diesem Sinne sind die Meditationen nur
zerstreute Blätter, lo s^mlxilv vitAne ot confus <i" mes svlltimöns. -- Zwei¬
tens. LIIs <1c"it so titiro pvunlv <>t l^ovüiir n"se"Iiürv comme 1a reli^ion, la
riusvn I.t nliünso^Iüo.

^ "Wie die Idee über den Thatsachen, so steht die Dichtung über der Politik.
Aber der Mensch lebt nicht blos vom Ideal. Es handelt sich darum, zu entschei¬
den , ob die Idee der Moral > der Religion, der evangelischen Barmherzigkeit an
Stelle der Selbstsucht in der Politik treten soll; ob Gott in seiner p-attischen
Bedeutung endlich in unsere Gesetze herabsteigen wird. -- Um diese höhere Ueber¬
zeugung in die politischen Gruppirungen einzuführen, entsage ich auf einen Augen¬
blick meiner Einsamkeit. Sobald ich diese Aufgabe erfüllt haben werde, kehre ich
in das poetische Lebe" zurück. Eine Welt von Poesie wogt in meinem Gehirn,
in der wirklichen Well erwarte ich nichts als Kummer und Verlust."

Ich lasse vorläufig diese dichterische Politik auf sich beruhe", weil ich Lamar¬
tine's politische Laufbahn im Zusammenhang verfolgen will. Was aber jene An¬
sicht von der Poesie betrifft, so darf ich wohl kaum erst erwähnen, daß sie nicht
allein falsch, sondern die allergefährlichste Abweichung von der rechten Bahn der
Dichtung ist. Sobald die Formen sich verwischen, hört die Poesie auf; sobald
der wissenschaftliche Stoff und die politische Tendenz sich den heitern Gestalten der
Phantasie bemächtigen, hat die Kunst keine Gewalt mese über sie. -- Wie wahr
das ist, davon zeugen uns Lamartine's eigne Werke am besten.

Ich nehme seine späteren Poesien gleich herzu. Es sind: ^ocel^n, ^our-
"al et'ouvv allez "n an>'<5 <I"z villa^e (1836); 1a cunde ä'un itNA"
(18-M und liocueillvinviits no6ti"iuo8 (1839).

Jocelyn macht zwar Anspruch darauf, nichts zu sein, als die Episode eines
großen Weltgedichts, welches die Menschheit schildern soll, wie Lucrez die Natur;
aber es ist kein Grund abzusehen, warum man für eine einfache Idylle die ge¬
stimmte Geschichte als Hintergrund aufspannen soll, sie würde auch nichts dadurch
gewinnen. Jocelyn ist das Beste, was Lamartine geschrieben hat. Zwar ist in-
seiner Sprache, in seinen Empfindungen und Bildern viel von jenem Lavcndclduft,
der uns seiue Lyrik fast überall ungenießbar macht, zwar ist die künstlerische Grnp-
pinmg, das Gesetz der Steigerung u. s. w. so nachlässig beobachtet, wie überall
in seinen Dichtungen; aber es ist für die Welt der Empfindungen doch ein rea¬
ler Boden und eine Successtvitat gefunden, wir haben doch wenigstens die Ahnung
einer Form, und dürfen nicht jeden Augenblick fürchten, in der Unermeßlichkeit des
Weltalls zu verschwimmen.

Ich habe schon erwähnt, daß eine Episode aus seinem eigenen Leben Lamar¬
tine den Stoff zum Jocelyn gegeben hat: die Geschichte des Ubbo Dumont, sei¬
nes erste" Lehrers. Der Faden der Begebenheiten ist folgender:

Jocelyn, ein junger Mensch von lebhafter Sinnlichkeit, der uns zuerst in el-


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zen Muth ein, ihm nachzutrachten. In diesem Sinne sind die Meditationen nur
zerstreute Blätter, lo s^mlxilv vitAne ot confus <i« mes svlltimöns. — Zwei¬
tens. LIIs <1c»it so titiro pvunlv <>t l^ovüiir n»se»Iiürv comme 1a reli^ion, la
riusvn I.t nliünso^Iüo.

^ „Wie die Idee über den Thatsachen, so steht die Dichtung über der Politik.
Aber der Mensch lebt nicht blos vom Ideal. Es handelt sich darum, zu entschei¬
den , ob die Idee der Moral > der Religion, der evangelischen Barmherzigkeit an
Stelle der Selbstsucht in der Politik treten soll; ob Gott in seiner p-attischen
Bedeutung endlich in unsere Gesetze herabsteigen wird. — Um diese höhere Ueber¬
zeugung in die politischen Gruppirungen einzuführen, entsage ich auf einen Augen¬
blick meiner Einsamkeit. Sobald ich diese Aufgabe erfüllt haben werde, kehre ich
in das poetische Lebe» zurück. Eine Welt von Poesie wogt in meinem Gehirn,
in der wirklichen Well erwarte ich nichts als Kummer und Verlust."

Ich lasse vorläufig diese dichterische Politik auf sich beruhe», weil ich Lamar¬
tine's politische Laufbahn im Zusammenhang verfolgen will. Was aber jene An¬
sicht von der Poesie betrifft, so darf ich wohl kaum erst erwähnen, daß sie nicht
allein falsch, sondern die allergefährlichste Abweichung von der rechten Bahn der
Dichtung ist. Sobald die Formen sich verwischen, hört die Poesie auf; sobald
der wissenschaftliche Stoff und die politische Tendenz sich den heitern Gestalten der
Phantasie bemächtigen, hat die Kunst keine Gewalt mese über sie. — Wie wahr
das ist, davon zeugen uns Lamartine's eigne Werke am besten.

Ich nehme seine späteren Poesien gleich herzu. Es sind: ^ocel^n, ^our-
»al et'ouvv allez »n an>'<5 <I«z villa^e (1836); 1a cunde ä'un itNA«
(18-M und liocueillvinviits no6ti«iuo8 (1839).

Jocelyn macht zwar Anspruch darauf, nichts zu sein, als die Episode eines
großen Weltgedichts, welches die Menschheit schildern soll, wie Lucrez die Natur;
aber es ist kein Grund abzusehen, warum man für eine einfache Idylle die ge¬
stimmte Geschichte als Hintergrund aufspannen soll, sie würde auch nichts dadurch
gewinnen. Jocelyn ist das Beste, was Lamartine geschrieben hat. Zwar ist in-
seiner Sprache, in seinen Empfindungen und Bildern viel von jenem Lavcndclduft,
der uns seiue Lyrik fast überall ungenießbar macht, zwar ist die künstlerische Grnp-
pinmg, das Gesetz der Steigerung u. s. w. so nachlässig beobachtet, wie überall
in seinen Dichtungen; aber es ist für die Welt der Empfindungen doch ein rea¬
ler Boden und eine Successtvitat gefunden, wir haben doch wenigstens die Ahnung
einer Form, und dürfen nicht jeden Augenblick fürchten, in der Unermeßlichkeit des
Weltalls zu verschwimmen.

Ich habe schon erwähnt, daß eine Episode aus seinem eigenen Leben Lamar¬
tine den Stoff zum Jocelyn gegeben hat: die Geschichte des Ubbo Dumont, sei¬
nes erste» Lehrers. Der Faden der Begebenheiten ist folgender:

Jocelyn, ein junger Mensch von lebhafter Sinnlichkeit, der uns zuerst in el-


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[0499] zen Muth ein, ihm nachzutrachten. In diesem Sinne sind die Meditationen nur zerstreute Blätter, lo s^mlxilv vitAne ot confus <i« mes svlltimöns. — Zwei¬ tens. LIIs <1c»it so titiro pvunlv <>t l^ovüiir n»se»Iiürv comme 1a reli^ion, la riusvn I.t nliünso^Iüo. ^ „Wie die Idee über den Thatsachen, so steht die Dichtung über der Politik. Aber der Mensch lebt nicht blos vom Ideal. Es handelt sich darum, zu entschei¬ den , ob die Idee der Moral > der Religion, der evangelischen Barmherzigkeit an Stelle der Selbstsucht in der Politik treten soll; ob Gott in seiner p-attischen Bedeutung endlich in unsere Gesetze herabsteigen wird. — Um diese höhere Ueber¬ zeugung in die politischen Gruppirungen einzuführen, entsage ich auf einen Augen¬ blick meiner Einsamkeit. Sobald ich diese Aufgabe erfüllt haben werde, kehre ich in das poetische Lebe» zurück. Eine Welt von Poesie wogt in meinem Gehirn, in der wirklichen Well erwarte ich nichts als Kummer und Verlust." Ich lasse vorläufig diese dichterische Politik auf sich beruhe», weil ich Lamar¬ tine's politische Laufbahn im Zusammenhang verfolgen will. Was aber jene An¬ sicht von der Poesie betrifft, so darf ich wohl kaum erst erwähnen, daß sie nicht allein falsch, sondern die allergefährlichste Abweichung von der rechten Bahn der Dichtung ist. Sobald die Formen sich verwischen, hört die Poesie auf; sobald der wissenschaftliche Stoff und die politische Tendenz sich den heitern Gestalten der Phantasie bemächtigen, hat die Kunst keine Gewalt mese über sie. — Wie wahr das ist, davon zeugen uns Lamartine's eigne Werke am besten. Ich nehme seine späteren Poesien gleich herzu. Es sind: ^ocel^n, ^our- »al et'ouvv allez »n an>'<5 <I«z villa^e (1836); 1a cunde ä'un itNA« (18-M und liocueillvinviits no6ti«iuo8 (1839). Jocelyn macht zwar Anspruch darauf, nichts zu sein, als die Episode eines großen Weltgedichts, welches die Menschheit schildern soll, wie Lucrez die Natur; aber es ist kein Grund abzusehen, warum man für eine einfache Idylle die ge¬ stimmte Geschichte als Hintergrund aufspannen soll, sie würde auch nichts dadurch gewinnen. Jocelyn ist das Beste, was Lamartine geschrieben hat. Zwar ist in- seiner Sprache, in seinen Empfindungen und Bildern viel von jenem Lavcndclduft, der uns seiue Lyrik fast überall ungenießbar macht, zwar ist die künstlerische Grnp- pinmg, das Gesetz der Steigerung u. s. w. so nachlässig beobachtet, wie überall in seinen Dichtungen; aber es ist für die Welt der Empfindungen doch ein rea¬ ler Boden und eine Successtvitat gefunden, wir haben doch wenigstens die Ahnung einer Form, und dürfen nicht jeden Augenblick fürchten, in der Unermeßlichkeit des Weltalls zu verschwimmen. Ich habe schon erwähnt, daß eine Episode aus seinem eigenen Leben Lamar¬ tine den Stoff zum Jocelyn gegeben hat: die Geschichte des Ubbo Dumont, sei¬ nes erste» Lehrers. Der Faden der Begebenheiten ist folgender: Jocelyn, ein junger Mensch von lebhafter Sinnlichkeit, der uns zuerst in el- 62*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/499>, abgerufen am 23.06.2024.