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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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nem Ball entgegentritt, entschließt sich aus Liebe zu seiner Schwester, die zur
Heirath mit ihrem Geliebten eine Aussteuer bedarf, der Welt zu entsagen und
Priester zu werden. Er tritt ins Seminar, wo er sieben Jahre in ossiani-
schen Träumereien verlebt, bis die Revolution die Anstalt zersprengt. Er flieht
in eine Alpengegend im Dauphin", und stellt dort seine Betrachtungen über die
Revolutionen u". Ein junges Mädchen, Laurence, die Tochter eines Geächteten,
flieht vor ihren Verfolgern in Knabentracht in seine Berge, er nimmt sich ihrer
an, hält sie für einen Knaben, und lebt ein Jahr hindurch mit ihr in der zarte¬
sten Freundschaft, bis er endlich ihr Geschlecht entdeckt und nun über die Natur
seiner Empfindungen in die größten Gewissensbisse verfüllt. Doch überwiegt noch
die Liebe, er schwort ihr ewige Treue. Noch hat er das verhängnißvolle Gelübde
nicht abgelegt. Da wird er abberufen, um seinen kranken Abt zu pflegeu. In
dieser Zeit des Unglaubens und der Verfolgung sollen die Gläubigen enger zu¬
sammenhalten. Er läßt sich durch die Androhung von Flüchen u. s. w. bewegen,
wirklich Priester zu werden. Laurence geräth in Verzweiflung über seine Untreue,
er selber klagt seine eigne Schwäche, sowie Gott an, und bereut seine falsche Tu¬
gend. Es ist zu spät. Im Kloster von Grenoble findet er seinen Aufenthalt.
In der öffentlichen Stimmung ist mittlerweile eine große Reaction eingetreten,
man verehrt die Priester als Heilige. Er hängt in seiner Einsamkeit Faustischen
Betrachtungen nach, beschäftigt sich mit den conventionellen Kloster-Empfindungen
und verfällt auch auf communistische Träumereien. Auf einer Reise nach Paris
sieht er Laurence wieder, als Gefallene; sie sucht wieder anzuknüpfen, er flieht
sie, macht eine Elegie darauf, und findet endlich Gelegenheit, ihr die letzte Oelung
zu ertheilen. Zuletzt beschäftigt et sich damit, armen Kindern Unterricht zu er¬
theilen, und in dieser Beschäftigung stirbt er eines Morgens sanft und selig.

Wenn wir von der Unnatur absehn, die mit einem unnatürlichen Problem
nothwendig verbunden ist, so bleibt immer noch viel falsche Empfindelei, die dem
Dichter eigen angehört. Lamartine ist eigentlich immer zu sehr mit sich selber be¬
schäftigt gewesen, um viel zu erleben, darum ist in den Seelenkämpfen, die er
schildert, keine objective Nothwendigkeit. Die Willkür spielt immer eine große
Rolle, Dennoch nimmt Jocelyn in den Evangelien der Empfindsamkeit -- Sieg¬
wart, Paul et Virginie, Werther, Nouv, Atala, Giaur -- eine verdiente Stellung
ein. Es fehlt ihm die epigrammatische Schärfe Byron's, die zarte Natur Goe¬
the's; aber wir empfinden doch eine innere Wärme der Seele, nicht blos die
Schattenspiele einer überreizten Einbildungskraft.

Dagegen sieht es mit der zweiten Episode seines universellen Gedichts, "der
Fall eines Engels," sehr böse aus. Sie stellt sich in ihrer vollständigen
Sinnlosigkeit würdig den "Natchez" vou Chateaubriand an die Seite. In
der Einleitung haben wir einige Reminiscenzen aus der orientalischen Reise; ein
Prophet auf dem Libanon, der mit gekreuzten Beinen in abstracter, seliger Cor-


nem Ball entgegentritt, entschließt sich aus Liebe zu seiner Schwester, die zur
Heirath mit ihrem Geliebten eine Aussteuer bedarf, der Welt zu entsagen und
Priester zu werden. Er tritt ins Seminar, wo er sieben Jahre in ossiani-
schen Träumereien verlebt, bis die Revolution die Anstalt zersprengt. Er flieht
in eine Alpengegend im Dauphin«, und stellt dort seine Betrachtungen über die
Revolutionen u». Ein junges Mädchen, Laurence, die Tochter eines Geächteten,
flieht vor ihren Verfolgern in Knabentracht in seine Berge, er nimmt sich ihrer
an, hält sie für einen Knaben, und lebt ein Jahr hindurch mit ihr in der zarte¬
sten Freundschaft, bis er endlich ihr Geschlecht entdeckt und nun über die Natur
seiner Empfindungen in die größten Gewissensbisse verfüllt. Doch überwiegt noch
die Liebe, er schwort ihr ewige Treue. Noch hat er das verhängnißvolle Gelübde
nicht abgelegt. Da wird er abberufen, um seinen kranken Abt zu pflegeu. In
dieser Zeit des Unglaubens und der Verfolgung sollen die Gläubigen enger zu¬
sammenhalten. Er läßt sich durch die Androhung von Flüchen u. s. w. bewegen,
wirklich Priester zu werden. Laurence geräth in Verzweiflung über seine Untreue,
er selber klagt seine eigne Schwäche, sowie Gott an, und bereut seine falsche Tu¬
gend. Es ist zu spät. Im Kloster von Grenoble findet er seinen Aufenthalt.
In der öffentlichen Stimmung ist mittlerweile eine große Reaction eingetreten,
man verehrt die Priester als Heilige. Er hängt in seiner Einsamkeit Faustischen
Betrachtungen nach, beschäftigt sich mit den conventionellen Kloster-Empfindungen
und verfällt auch auf communistische Träumereien. Auf einer Reise nach Paris
sieht er Laurence wieder, als Gefallene; sie sucht wieder anzuknüpfen, er flieht
sie, macht eine Elegie darauf, und findet endlich Gelegenheit, ihr die letzte Oelung
zu ertheilen. Zuletzt beschäftigt et sich damit, armen Kindern Unterricht zu er¬
theilen, und in dieser Beschäftigung stirbt er eines Morgens sanft und selig.

Wenn wir von der Unnatur absehn, die mit einem unnatürlichen Problem
nothwendig verbunden ist, so bleibt immer noch viel falsche Empfindelei, die dem
Dichter eigen angehört. Lamartine ist eigentlich immer zu sehr mit sich selber be¬
schäftigt gewesen, um viel zu erleben, darum ist in den Seelenkämpfen, die er
schildert, keine objective Nothwendigkeit. Die Willkür spielt immer eine große
Rolle, Dennoch nimmt Jocelyn in den Evangelien der Empfindsamkeit — Sieg¬
wart, Paul et Virginie, Werther, Nouv, Atala, Giaur — eine verdiente Stellung
ein. Es fehlt ihm die epigrammatische Schärfe Byron's, die zarte Natur Goe¬
the's; aber wir empfinden doch eine innere Wärme der Seele, nicht blos die
Schattenspiele einer überreizten Einbildungskraft.

Dagegen sieht es mit der zweiten Episode seines universellen Gedichts, „der
Fall eines Engels," sehr böse aus. Sie stellt sich in ihrer vollständigen
Sinnlosigkeit würdig den „Natchez" vou Chateaubriand an die Seite. In
der Einleitung haben wir einige Reminiscenzen aus der orientalischen Reise; ein
Prophet auf dem Libanon, der mit gekreuzten Beinen in abstracter, seliger Cor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/500>, abgerufen am 23.06.2024.