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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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schaft mit Mathisson und Salis, nur daß er sich nicht auf so barocke Reime legt.
Doch bringt er es auch hier nie zu einem eigentlichen Bilde, dazu ist sein Idealis¬
mus zu trübe und unbestimmt. Il ins taut, sagt er einmal, um "Hour n'int,
nah ä'llvri^on; I'iulmi biens soo sein altsorbo in" pensee. Das ist eine unglück¬
liche Neigung für einen contemplativen Dichter, der ohnehin nicht viel Anlage zur
Gestaltung hat. -- In den "Neuen Meditationen" nimmt er Abschied von der
Poesie. Bekanntlich hat die Trennung nicht lange gedauert/

Der "Tod des Socrates" ist eine sehr seichte und weitschweifige Para¬
phrase des Kriton und Phädon, ohne eigentliches Verständniß der Sache mit ein¬
gestreuter Polemik gegen den herrschenden Materialismus, anderweitigen christli¬
chen Reminiscenzen und einer sehr prosaischen Theorie von der Unsterblichkeit der
Seele. Von diesem Gedicht wie von sämmtlichen spätern, auch wenn sie einen
sehr bedeutenden Umfang haben, erklärte Lamartine, es seien nur.Fragmente eines
großen, Himmel und Erde, Natur und Geschichte, Religion und Liebe umfassenden Gan¬
zen, an welchem zu arbeiten die Aufgabe seines Lebens sei, obgleich er nie hoffen
könne, es zu vollenden. Schlimmer ist es mit dem dk-me an sircrv; die Lobhude¬
leieil uicht allein gegen Karl X. und seine Familie, sondern auch gegen sämmtliche
Pars sind so stark, daß sie empören würden, wenn man nicht zweierlei in Erwä¬
gung zöge: die Unsicherheit im Urtheil, welche Lamartine auch in seinen histori¬
schen Schriften an den Tag gelegt hat, und die Neigung der Franzosen, bei einem
hübschen Versbau und den angemessenen conventionellen Steigerungen jedweden
Inhalt hinzunehmen. Lamartine hat noch in mehreren Oden seiner legitimistischen
Neigung Luft gemacht, ganz wie Victor Hugo; in der einen: "der verbannte
Engel," feiert er die Herzogin von Berry; in einem andern auf die Geburt des
Herzogs von Bordeaux geräth er außer sich über das der Welt widerfahrene
Heil: ^1 est 1'önlÄiit du mir-rete! dernier "in ä'rin und^r, it est
"1'un "lerniur "minir u. s. w. -- In der berühmten Ode an Bonaparte geht er
Anfangs höflich genug zu Werke: l'n Al-audis s-ruf plitisk-, tu eventus s-ruf mu"
MUIV, rieu d'lium.'um no bitte-ut sous ton vpiüss" i^rmure; "ans lurino et 8?>n8
amour, tu vivius nour nciusor (!) l^ommv I'iÜFlo rvAN-me dans un alvi solitiUl-v,
tu n'irviüs am'un reAilrcl s>our mvsurLr la terro^, vt clef serrvL jionr 1'tut)r.t88ör.
Das alles, sage ich, ist höflich genug, wenn es auch uicht wahr ist; sobald er
aber auf den Tod des Herzogs von Enghicu zu sprechen kommt, verliert er völlig
alle Fassung und Besinnung. -- Bei einem gewöhnlichen Lyriker würde nichts
darüber zu sagen sein, aber der angehende Staatsmann veranlaßt dadurch ein ge¬
lindes Kopfschütteln.

Die "Harmonies" (l830) sind kein wesentlicher Fortschritt, weder in Be¬
ziehung aus den Inhalt noch auf die Form. "Es gibt Herzen, die durch den
Kummer gebrochen, von der Welt verstoßen, sich in die Welt ihrer eigenen Ge¬
danken flüchten, in die Einsamkeit ihrer Seele, um zu weinen, zu harren, oder


schaft mit Mathisson und Salis, nur daß er sich nicht auf so barocke Reime legt.
Doch bringt er es auch hier nie zu einem eigentlichen Bilde, dazu ist sein Idealis¬
mus zu trübe und unbestimmt. Il ins taut, sagt er einmal, um «Hour n'int,
nah ä'llvri^on; I'iulmi biens soo sein altsorbo in» pensee. Das ist eine unglück¬
liche Neigung für einen contemplativen Dichter, der ohnehin nicht viel Anlage zur
Gestaltung hat. — In den „Neuen Meditationen" nimmt er Abschied von der
Poesie. Bekanntlich hat die Trennung nicht lange gedauert/

Der „Tod des Socrates" ist eine sehr seichte und weitschweifige Para¬
phrase des Kriton und Phädon, ohne eigentliches Verständniß der Sache mit ein¬
gestreuter Polemik gegen den herrschenden Materialismus, anderweitigen christli¬
chen Reminiscenzen und einer sehr prosaischen Theorie von der Unsterblichkeit der
Seele. Von diesem Gedicht wie von sämmtlichen spätern, auch wenn sie einen
sehr bedeutenden Umfang haben, erklärte Lamartine, es seien nur.Fragmente eines
großen, Himmel und Erde, Natur und Geschichte, Religion und Liebe umfassenden Gan¬
zen, an welchem zu arbeiten die Aufgabe seines Lebens sei, obgleich er nie hoffen
könne, es zu vollenden. Schlimmer ist es mit dem dk-me an sircrv; die Lobhude¬
leieil uicht allein gegen Karl X. und seine Familie, sondern auch gegen sämmtliche
Pars sind so stark, daß sie empören würden, wenn man nicht zweierlei in Erwä¬
gung zöge: die Unsicherheit im Urtheil, welche Lamartine auch in seinen histori¬
schen Schriften an den Tag gelegt hat, und die Neigung der Franzosen, bei einem
hübschen Versbau und den angemessenen conventionellen Steigerungen jedweden
Inhalt hinzunehmen. Lamartine hat noch in mehreren Oden seiner legitimistischen
Neigung Luft gemacht, ganz wie Victor Hugo; in der einen: „der verbannte
Engel," feiert er die Herzogin von Berry; in einem andern auf die Geburt des
Herzogs von Bordeaux geräth er außer sich über das der Welt widerfahrene
Heil: ^1 est 1'önlÄiit du mir-rete! dernier «in ä'rin und^r, it est
«1'un «lerniur «minir u. s. w. — In der berühmten Ode an Bonaparte geht er
Anfangs höflich genug zu Werke: l'n Al-audis s-ruf plitisk-, tu eventus s-ruf mu»
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Das alles, sage ich, ist höflich genug, wenn es auch uicht wahr ist; sobald er
aber auf den Tod des Herzogs von Enghicu zu sprechen kommt, verliert er völlig
alle Fassung und Besinnung. — Bei einem gewöhnlichen Lyriker würde nichts
darüber zu sagen sein, aber der angehende Staatsmann veranlaßt dadurch ein ge¬
lindes Kopfschütteln.

Die „Harmonies" (l830) sind kein wesentlicher Fortschritt, weder in Be¬
ziehung aus den Inhalt noch auf die Form. „Es gibt Herzen, die durch den
Kummer gebrochen, von der Welt verstoßen, sich in die Welt ihrer eigenen Ge¬
danken flüchten, in die Einsamkeit ihrer Seele, um zu weinen, zu harren, oder


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[0496] schaft mit Mathisson und Salis, nur daß er sich nicht auf so barocke Reime legt. Doch bringt er es auch hier nie zu einem eigentlichen Bilde, dazu ist sein Idealis¬ mus zu trübe und unbestimmt. Il ins taut, sagt er einmal, um «Hour n'int, nah ä'llvri^on; I'iulmi biens soo sein altsorbo in» pensee. Das ist eine unglück¬ liche Neigung für einen contemplativen Dichter, der ohnehin nicht viel Anlage zur Gestaltung hat. — In den „Neuen Meditationen" nimmt er Abschied von der Poesie. Bekanntlich hat die Trennung nicht lange gedauert/ Der „Tod des Socrates" ist eine sehr seichte und weitschweifige Para¬ phrase des Kriton und Phädon, ohne eigentliches Verständniß der Sache mit ein¬ gestreuter Polemik gegen den herrschenden Materialismus, anderweitigen christli¬ chen Reminiscenzen und einer sehr prosaischen Theorie von der Unsterblichkeit der Seele. Von diesem Gedicht wie von sämmtlichen spätern, auch wenn sie einen sehr bedeutenden Umfang haben, erklärte Lamartine, es seien nur.Fragmente eines großen, Himmel und Erde, Natur und Geschichte, Religion und Liebe umfassenden Gan¬ zen, an welchem zu arbeiten die Aufgabe seines Lebens sei, obgleich er nie hoffen könne, es zu vollenden. Schlimmer ist es mit dem dk-me an sircrv; die Lobhude¬ leieil uicht allein gegen Karl X. und seine Familie, sondern auch gegen sämmtliche Pars sind so stark, daß sie empören würden, wenn man nicht zweierlei in Erwä¬ gung zöge: die Unsicherheit im Urtheil, welche Lamartine auch in seinen histori¬ schen Schriften an den Tag gelegt hat, und die Neigung der Franzosen, bei einem hübschen Versbau und den angemessenen conventionellen Steigerungen jedweden Inhalt hinzunehmen. Lamartine hat noch in mehreren Oden seiner legitimistischen Neigung Luft gemacht, ganz wie Victor Hugo; in der einen: „der verbannte Engel," feiert er die Herzogin von Berry; in einem andern auf die Geburt des Herzogs von Bordeaux geräth er außer sich über das der Welt widerfahrene Heil: ^1 est 1'önlÄiit du mir-rete! dernier «in ä'rin und^r, it est «1'un «lerniur «minir u. s. w. — In der berühmten Ode an Bonaparte geht er Anfangs höflich genug zu Werke: l'n Al-audis s-ruf plitisk-, tu eventus s-ruf mu» MUIV, rieu d'lium.'um no bitte-ut sous ton vpiüss« i^rmure; «ans lurino et 8?>n8 amour, tu vivius nour nciusor (!) l^ommv I'iÜFlo rvAN-me dans un alvi solitiUl-v, tu n'irviüs am'un reAilrcl s>our mvsurLr la terro^, vt clef serrvL jionr 1'tut)r.t88ör. Das alles, sage ich, ist höflich genug, wenn es auch uicht wahr ist; sobald er aber auf den Tod des Herzogs von Enghicu zu sprechen kommt, verliert er völlig alle Fassung und Besinnung. — Bei einem gewöhnlichen Lyriker würde nichts darüber zu sagen sein, aber der angehende Staatsmann veranlaßt dadurch ein ge¬ lindes Kopfschütteln. Die „Harmonies" (l830) sind kein wesentlicher Fortschritt, weder in Be¬ ziehung aus den Inhalt noch auf die Form. „Es gibt Herzen, die durch den Kummer gebrochen, von der Welt verstoßen, sich in die Welt ihrer eigenen Ge¬ danken flüchten, in die Einsamkeit ihrer Seele, um zu weinen, zu harren, oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/496>, abgerufen am 23.06.2024.