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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Träume des Dichters durch Idee", durch Kritik, durch große wissenschaftliche Bil¬
dung. Er hat nie etwas geschrieben, weil er sich in seinen Vorstudien nie ge¬
nügte. Wie alle strebsam gewissenhafte Geister ohne Gestaltungskraft, war er
ein großer Verehrer von Montaigne. Mit Recht bekämpfte Lamartine diese Vor¬
liebe. Denn der Zweifel, der sich genügt, macht den Geist unfruchtbar. An
Nichts glauben, führt zum Nichtsthun. Die Philosophie, die mit allen Dingen
tändelt, ist ruchlos. Die Welt ist der Mühe werth, sie ernst zu nehmen.

Im Sommer brachte Lamartine regelmäßig einige Monate ans dem Landgut
seines Freundes im Dauphinv, bei der geistreichen Schwester desselben zu. Eine
Reihe seiner poetischen Meditationen sind aus diesem Umgang entsprungen.

Wie Lamartine, trat Virieu später in die diplomatische Carriere ein. Aber
er wurde der Welt früher müde, und zog sich in die einsame Beschaulichkeit seines
Landgutes zurück.

Ein zweiter Freund, dessen Umgang wesentlich ans seine Bildung einwirkte,
war Louis de Vignet. Er hatte mit ihm bei den Jesuiten studirt, aber Vignet's
männliche Natur hatte dem sanften Zwang deö Ordens Widerstand geleistet. Er
galt unter den frommen Schülern als eine Art Dämon. Eine Alpenreise, die La¬
martine unternahm, nachdem er seinen Dienst definitiv aufgegeben, und sich wieder
nach Milky zurückgezogen hatte, führte ihn ans das kleine Gut seines Freundes.
Bei ihm lernte er zum ersten Mal in seinem Leben zwei originelle Menschen ken¬
nen, zwei Grafen de Maistre, Verwandte seines Freundes, der Eine Oberst
außer Dienst, der Anden Kanonikus in Savoyen. Sie hatten ihre Zeit gründ¬
lich studirt, und wußten sie ans das Trefflichste zu ironisiren. Der CanonikuS
führte neben seinen Predigten ein Register von närrischen Anekdoten, und führte
mit Frau von StaLl, über deren Enthusiasmus er sich gern lustig machte, einen
ebenso lebhaften als bizarren Briefwechsel. Später lernte er auch die beide" be¬
rühmten Brüder, A'aver und Joseph de Maistre, kennen, die sich damals in Ru߬
land aufhielten, ebenso excentrisch, paradox und geistvoll als Jeue.

"Dieser Umgang war mir sehr nützlich. Er befreite mich von jener Unter-
ofstzierphilosophie nud von jener verweichlichten Literatur, die damals in Frank¬
reich herrschte. Er zeigte mir ursprüngliche Naturen an Stelle jener verwischten
Copien, die damals in Paris die Gesellschaften ausmachten. Er verpflanzte mich
in eine neue, originelle Welt, deren Typus mir bis dahin unbekannt geblieben
war." Es wurden gegenseitig Gedichte vorgelesen und kntifirt, und Entwürfe
einer republikanischen Theokratie ausgedacht.

-- "Es folgen zwei Jahre, von denen ich nur Unregelmäßigkeiten, Fehler
und Unheil berichten könnte. Das Spiel war meine hauptsächliche Beschäftigung.
Ich gewann und verlor wechselsweise beträchtliche Summen, zu Mailand, zu Pa¬
ris^ zu Neapel. Meine Mutter kam endlich, mich in das Vaterhaus zurückzufüh¬
ren, das durch unerwartete Unglücksfälle beinahe ruinirt war.


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Träume des Dichters durch Idee», durch Kritik, durch große wissenschaftliche Bil¬
dung. Er hat nie etwas geschrieben, weil er sich in seinen Vorstudien nie ge¬
nügte. Wie alle strebsam gewissenhafte Geister ohne Gestaltungskraft, war er
ein großer Verehrer von Montaigne. Mit Recht bekämpfte Lamartine diese Vor¬
liebe. Denn der Zweifel, der sich genügt, macht den Geist unfruchtbar. An
Nichts glauben, führt zum Nichtsthun. Die Philosophie, die mit allen Dingen
tändelt, ist ruchlos. Die Welt ist der Mühe werth, sie ernst zu nehmen.

Im Sommer brachte Lamartine regelmäßig einige Monate ans dem Landgut
seines Freundes im Dauphinv, bei der geistreichen Schwester desselben zu. Eine
Reihe seiner poetischen Meditationen sind aus diesem Umgang entsprungen.

Wie Lamartine, trat Virieu später in die diplomatische Carriere ein. Aber
er wurde der Welt früher müde, und zog sich in die einsame Beschaulichkeit seines
Landgutes zurück.

Ein zweiter Freund, dessen Umgang wesentlich ans seine Bildung einwirkte,
war Louis de Vignet. Er hatte mit ihm bei den Jesuiten studirt, aber Vignet's
männliche Natur hatte dem sanften Zwang deö Ordens Widerstand geleistet. Er
galt unter den frommen Schülern als eine Art Dämon. Eine Alpenreise, die La¬
martine unternahm, nachdem er seinen Dienst definitiv aufgegeben, und sich wieder
nach Milky zurückgezogen hatte, führte ihn ans das kleine Gut seines Freundes.
Bei ihm lernte er zum ersten Mal in seinem Leben zwei originelle Menschen ken¬
nen, zwei Grafen de Maistre, Verwandte seines Freundes, der Eine Oberst
außer Dienst, der Anden Kanonikus in Savoyen. Sie hatten ihre Zeit gründ¬
lich studirt, und wußten sie ans das Trefflichste zu ironisiren. Der CanonikuS
führte neben seinen Predigten ein Register von närrischen Anekdoten, und führte
mit Frau von StaLl, über deren Enthusiasmus er sich gern lustig machte, einen
ebenso lebhaften als bizarren Briefwechsel. Später lernte er auch die beide» be¬
rühmten Brüder, A'aver und Joseph de Maistre, kennen, die sich damals in Ru߬
land aufhielten, ebenso excentrisch, paradox und geistvoll als Jeue.

„Dieser Umgang war mir sehr nützlich. Er befreite mich von jener Unter-
ofstzierphilosophie nud von jener verweichlichten Literatur, die damals in Frank¬
reich herrschte. Er zeigte mir ursprüngliche Naturen an Stelle jener verwischten
Copien, die damals in Paris die Gesellschaften ausmachten. Er verpflanzte mich
in eine neue, originelle Welt, deren Typus mir bis dahin unbekannt geblieben
war." Es wurden gegenseitig Gedichte vorgelesen und kntifirt, und Entwürfe
einer republikanischen Theokratie ausgedacht.

— „Es folgen zwei Jahre, von denen ich nur Unregelmäßigkeiten, Fehler
und Unheil berichten könnte. Das Spiel war meine hauptsächliche Beschäftigung.
Ich gewann und verlor wechselsweise beträchtliche Summen, zu Mailand, zu Pa¬
ris^ zu Neapel. Meine Mutter kam endlich, mich in das Vaterhaus zurückzufüh¬
ren, das durch unerwartete Unglücksfälle beinahe ruinirt war.


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[0459] Träume des Dichters durch Idee», durch Kritik, durch große wissenschaftliche Bil¬ dung. Er hat nie etwas geschrieben, weil er sich in seinen Vorstudien nie ge¬ nügte. Wie alle strebsam gewissenhafte Geister ohne Gestaltungskraft, war er ein großer Verehrer von Montaigne. Mit Recht bekämpfte Lamartine diese Vor¬ liebe. Denn der Zweifel, der sich genügt, macht den Geist unfruchtbar. An Nichts glauben, führt zum Nichtsthun. Die Philosophie, die mit allen Dingen tändelt, ist ruchlos. Die Welt ist der Mühe werth, sie ernst zu nehmen. Im Sommer brachte Lamartine regelmäßig einige Monate ans dem Landgut seines Freundes im Dauphinv, bei der geistreichen Schwester desselben zu. Eine Reihe seiner poetischen Meditationen sind aus diesem Umgang entsprungen. Wie Lamartine, trat Virieu später in die diplomatische Carriere ein. Aber er wurde der Welt früher müde, und zog sich in die einsame Beschaulichkeit seines Landgutes zurück. Ein zweiter Freund, dessen Umgang wesentlich ans seine Bildung einwirkte, war Louis de Vignet. Er hatte mit ihm bei den Jesuiten studirt, aber Vignet's männliche Natur hatte dem sanften Zwang deö Ordens Widerstand geleistet. Er galt unter den frommen Schülern als eine Art Dämon. Eine Alpenreise, die La¬ martine unternahm, nachdem er seinen Dienst definitiv aufgegeben, und sich wieder nach Milky zurückgezogen hatte, führte ihn ans das kleine Gut seines Freundes. Bei ihm lernte er zum ersten Mal in seinem Leben zwei originelle Menschen ken¬ nen, zwei Grafen de Maistre, Verwandte seines Freundes, der Eine Oberst außer Dienst, der Anden Kanonikus in Savoyen. Sie hatten ihre Zeit gründ¬ lich studirt, und wußten sie ans das Trefflichste zu ironisiren. Der CanonikuS führte neben seinen Predigten ein Register von närrischen Anekdoten, und führte mit Frau von StaLl, über deren Enthusiasmus er sich gern lustig machte, einen ebenso lebhaften als bizarren Briefwechsel. Später lernte er auch die beide» be¬ rühmten Brüder, A'aver und Joseph de Maistre, kennen, die sich damals in Ru߬ land aufhielten, ebenso excentrisch, paradox und geistvoll als Jeue. „Dieser Umgang war mir sehr nützlich. Er befreite mich von jener Unter- ofstzierphilosophie nud von jener verweichlichten Literatur, die damals in Frank¬ reich herrschte. Er zeigte mir ursprüngliche Naturen an Stelle jener verwischten Copien, die damals in Paris die Gesellschaften ausmachten. Er verpflanzte mich in eine neue, originelle Welt, deren Typus mir bis dahin unbekannt geblieben war." Es wurden gegenseitig Gedichte vorgelesen und kntifirt, und Entwürfe einer republikanischen Theokratie ausgedacht. — „Es folgen zwei Jahre, von denen ich nur Unregelmäßigkeiten, Fehler und Unheil berichten könnte. Das Spiel war meine hauptsächliche Beschäftigung. Ich gewann und verlor wechselsweise beträchtliche Summen, zu Mailand, zu Pa¬ ris^ zu Neapel. Meine Mutter kam endlich, mich in das Vaterhaus zurückzufüh¬ ren, das durch unerwartete Unglücksfälle beinahe ruinirt war. 57*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/459>, abgerufen am 23.06.2024.