Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

"Ich lebte damals -- wenn man das leben nennen kann -- wie in einer
halbdunkeln Winterdämmerung. Bevor ich gelebt hatte, war ich müde zu leben.
Ich zog mich gleichsam aus der Existenz in eine innere Sammlung ohne Illusionen
zurück, in diese Einsamkeit des Herzens, welche alle Freuden der Weltbewegung
abschneidet: eine Art von anticipirter Gewissenhaftigkeit, unter deren kalter Hülle
neue, heißere Stürme sich entwickeln."

Lamartine lebte auf seinem Schlosse einen Sommer lang allein. Die ganze
Familie war auf Reisen nach allen Richtungen hin zerstreut. Eine alte Magd,
ein Hund und ein Pferd waren seine einzigen Gefährten. Das Haus war ver¬
fallen genug, um seiner Stimmung zu entsprechen. Er bewegte sich in einem un¬
ruhigen Müßiggang; von seinem Zimmer ging er in den leeren Ahnensaal, wo er
träumte, aus dem Saale in den Stall, wo er sein Pferd fütterte, aus dem Stalle
in den Garten, wo er die Erbsen begoß, ans dem Garten auf den Berg, wo er
das Fallen der Herbstblätter betrachtete. Er war in seiner Entmuthigung soweit
gekommen, daß es ihm eine Art bitteren Vergnügens machte, auf der Eitelkeit
aller Gedanken und Empfindungen zu verweilen.

Er fand endlich einen Gefährten seiner Einsamkeit in dem Abbe Dumont,
seinem ersten Lehrer, der ein ähnliches melancholisch-verwilderts Leben führte. Sie
begegneten sich häufig auf ihren Spaziergängen, und fingen endlich an, sich ge¬
genseitig zu besuchen. Zuletzt kam Lamartine allabendlich in die einsame Pfarrwoh-
nung, half dem Abb" in seinen ländlichen Beschäftigungen, und disputirte mit ihm
über die Ungerechtigkeit des Schicksals, das Ente des Ehrgeizes, die Veränder¬
lichkeit und die Ungewißheit der menschlichen Ideen ü. tgi. Als Belege wurden
dann hin und wieder philosophische Schriften aufgeschlagen, zuletzt im Zusammen¬
hang gelesen. Man schwärmte für die Republik und gegen die Jakobiner, für
die Restauration als das Ende der kaiserlichen Tyrannei, und gegen den schleckten
Hof. Lamartine suchte umsonst seinen, philosophische" Freund durch die neumodisch
religiösen Werke eines Chateaubriand, Bonald, Lamenais, FrcyssinonS zu bekeh¬
ren, obgleich der stylistische Werth derselben seine Wirkung nicht verfehlte. Lamar¬
tine suchte sich durch angestrengte Phantasten zum Glauben seiner Kindheit zurück
zu reflectiren, um doch etwas Positives zu haben, bis er zuletzt ernstlich krank
wurde, und der Arzt, um ihn seiner Einsamkeit zu entreißen, ihm die Bäder von
Aix in Savoyen verordnete. Mit 25 Louisdor, die er von einem weitläufigen
Verwandten entlehnt, reiste er nach Chambery ab.

Wir kommen jetzt auf seine eigentlich praktische Laufbahn, die wir in einem
der nächsten Hefte-zu verfolgen gedenken.




„Ich lebte damals — wenn man das leben nennen kann — wie in einer
halbdunkeln Winterdämmerung. Bevor ich gelebt hatte, war ich müde zu leben.
Ich zog mich gleichsam aus der Existenz in eine innere Sammlung ohne Illusionen
zurück, in diese Einsamkeit des Herzens, welche alle Freuden der Weltbewegung
abschneidet: eine Art von anticipirter Gewissenhaftigkeit, unter deren kalter Hülle
neue, heißere Stürme sich entwickeln."

Lamartine lebte auf seinem Schlosse einen Sommer lang allein. Die ganze
Familie war auf Reisen nach allen Richtungen hin zerstreut. Eine alte Magd,
ein Hund und ein Pferd waren seine einzigen Gefährten. Das Haus war ver¬
fallen genug, um seiner Stimmung zu entsprechen. Er bewegte sich in einem un¬
ruhigen Müßiggang; von seinem Zimmer ging er in den leeren Ahnensaal, wo er
träumte, aus dem Saale in den Stall, wo er sein Pferd fütterte, aus dem Stalle
in den Garten, wo er die Erbsen begoß, ans dem Garten auf den Berg, wo er
das Fallen der Herbstblätter betrachtete. Er war in seiner Entmuthigung soweit
gekommen, daß es ihm eine Art bitteren Vergnügens machte, auf der Eitelkeit
aller Gedanken und Empfindungen zu verweilen.

Er fand endlich einen Gefährten seiner Einsamkeit in dem Abbe Dumont,
seinem ersten Lehrer, der ein ähnliches melancholisch-verwilderts Leben führte. Sie
begegneten sich häufig auf ihren Spaziergängen, und fingen endlich an, sich ge¬
genseitig zu besuchen. Zuletzt kam Lamartine allabendlich in die einsame Pfarrwoh-
nung, half dem Abb« in seinen ländlichen Beschäftigungen, und disputirte mit ihm
über die Ungerechtigkeit des Schicksals, das Ente des Ehrgeizes, die Veränder¬
lichkeit und die Ungewißheit der menschlichen Ideen ü. tgi. Als Belege wurden
dann hin und wieder philosophische Schriften aufgeschlagen, zuletzt im Zusammen¬
hang gelesen. Man schwärmte für die Republik und gegen die Jakobiner, für
die Restauration als das Ende der kaiserlichen Tyrannei, und gegen den schleckten
Hof. Lamartine suchte umsonst seinen, philosophische» Freund durch die neumodisch
religiösen Werke eines Chateaubriand, Bonald, Lamenais, FrcyssinonS zu bekeh¬
ren, obgleich der stylistische Werth derselben seine Wirkung nicht verfehlte. Lamar¬
tine suchte sich durch angestrengte Phantasten zum Glauben seiner Kindheit zurück
zu reflectiren, um doch etwas Positives zu haben, bis er zuletzt ernstlich krank
wurde, und der Arzt, um ihn seiner Einsamkeit zu entreißen, ihm die Bäder von
Aix in Savoyen verordnete. Mit 25 Louisdor, die er von einem weitläufigen
Verwandten entlehnt, reiste er nach Chambery ab.

Wir kommen jetzt auf seine eigentlich praktische Laufbahn, die wir in einem
der nächsten Hefte-zu verfolgen gedenken.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0460" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93283"/>
            <p xml:id="ID_1579"> &#x201E;Ich lebte damals &#x2014; wenn man das leben nennen kann &#x2014; wie in einer<lb/>
halbdunkeln Winterdämmerung. Bevor ich gelebt hatte, war ich müde zu leben.<lb/>
Ich zog mich gleichsam aus der Existenz in eine innere Sammlung ohne Illusionen<lb/>
zurück, in diese Einsamkeit des Herzens, welche alle Freuden der Weltbewegung<lb/>
abschneidet: eine Art von anticipirter Gewissenhaftigkeit, unter deren kalter Hülle<lb/>
neue, heißere Stürme sich entwickeln."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1580"> Lamartine lebte auf seinem Schlosse einen Sommer lang allein. Die ganze<lb/>
Familie war auf Reisen nach allen Richtungen hin zerstreut. Eine alte Magd,<lb/>
ein Hund und ein Pferd waren seine einzigen Gefährten. Das Haus war ver¬<lb/>
fallen genug, um seiner Stimmung zu entsprechen. Er bewegte sich in einem un¬<lb/>
ruhigen Müßiggang; von seinem Zimmer ging er in den leeren Ahnensaal, wo er<lb/>
träumte, aus dem Saale in den Stall, wo er sein Pferd fütterte, aus dem Stalle<lb/>
in den Garten, wo er die Erbsen begoß, ans dem Garten auf den Berg, wo er<lb/>
das Fallen der Herbstblätter betrachtete. Er war in seiner Entmuthigung soweit<lb/>
gekommen, daß es ihm eine Art bitteren Vergnügens machte, auf der Eitelkeit<lb/>
aller Gedanken und Empfindungen zu verweilen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1581"> Er fand endlich einen Gefährten seiner Einsamkeit in dem Abbe Dumont,<lb/>
seinem ersten Lehrer, der ein ähnliches melancholisch-verwilderts Leben führte. Sie<lb/>
begegneten sich häufig auf ihren Spaziergängen, und fingen endlich an, sich ge¬<lb/>
genseitig zu besuchen. Zuletzt kam Lamartine allabendlich in die einsame Pfarrwoh-<lb/>
nung, half dem Abb« in seinen ländlichen Beschäftigungen, und disputirte mit ihm<lb/>
über die Ungerechtigkeit des Schicksals, das Ente des Ehrgeizes, die Veränder¬<lb/>
lichkeit und die Ungewißheit der menschlichen Ideen ü. tgi. Als Belege wurden<lb/>
dann hin und wieder philosophische Schriften aufgeschlagen, zuletzt im Zusammen¬<lb/>
hang gelesen. Man schwärmte für die Republik und gegen die Jakobiner, für<lb/>
die Restauration als das Ende der kaiserlichen Tyrannei, und gegen den schleckten<lb/>
Hof. Lamartine suchte umsonst seinen, philosophische» Freund durch die neumodisch<lb/>
religiösen Werke eines Chateaubriand, Bonald, Lamenais, FrcyssinonS zu bekeh¬<lb/>
ren, obgleich der stylistische Werth derselben seine Wirkung nicht verfehlte. Lamar¬<lb/>
tine suchte sich durch angestrengte Phantasten zum Glauben seiner Kindheit zurück<lb/>
zu reflectiren, um doch etwas Positives zu haben, bis er zuletzt ernstlich krank<lb/>
wurde, und der Arzt, um ihn seiner Einsamkeit zu entreißen, ihm die Bäder von<lb/>
Aix in Savoyen verordnete. Mit 25 Louisdor, die er von einem weitläufigen<lb/>
Verwandten entlehnt, reiste er nach Chambery ab.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1582"> Wir kommen jetzt auf seine eigentlich praktische Laufbahn, die wir in einem<lb/>
der nächsten Hefte-zu verfolgen gedenken.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0460] „Ich lebte damals — wenn man das leben nennen kann — wie in einer halbdunkeln Winterdämmerung. Bevor ich gelebt hatte, war ich müde zu leben. Ich zog mich gleichsam aus der Existenz in eine innere Sammlung ohne Illusionen zurück, in diese Einsamkeit des Herzens, welche alle Freuden der Weltbewegung abschneidet: eine Art von anticipirter Gewissenhaftigkeit, unter deren kalter Hülle neue, heißere Stürme sich entwickeln." Lamartine lebte auf seinem Schlosse einen Sommer lang allein. Die ganze Familie war auf Reisen nach allen Richtungen hin zerstreut. Eine alte Magd, ein Hund und ein Pferd waren seine einzigen Gefährten. Das Haus war ver¬ fallen genug, um seiner Stimmung zu entsprechen. Er bewegte sich in einem un¬ ruhigen Müßiggang; von seinem Zimmer ging er in den leeren Ahnensaal, wo er träumte, aus dem Saale in den Stall, wo er sein Pferd fütterte, aus dem Stalle in den Garten, wo er die Erbsen begoß, ans dem Garten auf den Berg, wo er das Fallen der Herbstblätter betrachtete. Er war in seiner Entmuthigung soweit gekommen, daß es ihm eine Art bitteren Vergnügens machte, auf der Eitelkeit aller Gedanken und Empfindungen zu verweilen. Er fand endlich einen Gefährten seiner Einsamkeit in dem Abbe Dumont, seinem ersten Lehrer, der ein ähnliches melancholisch-verwilderts Leben führte. Sie begegneten sich häufig auf ihren Spaziergängen, und fingen endlich an, sich ge¬ genseitig zu besuchen. Zuletzt kam Lamartine allabendlich in die einsame Pfarrwoh- nung, half dem Abb« in seinen ländlichen Beschäftigungen, und disputirte mit ihm über die Ungerechtigkeit des Schicksals, das Ente des Ehrgeizes, die Veränder¬ lichkeit und die Ungewißheit der menschlichen Ideen ü. tgi. Als Belege wurden dann hin und wieder philosophische Schriften aufgeschlagen, zuletzt im Zusammen¬ hang gelesen. Man schwärmte für die Republik und gegen die Jakobiner, für die Restauration als das Ende der kaiserlichen Tyrannei, und gegen den schleckten Hof. Lamartine suchte umsonst seinen, philosophische» Freund durch die neumodisch religiösen Werke eines Chateaubriand, Bonald, Lamenais, FrcyssinonS zu bekeh¬ ren, obgleich der stylistische Werth derselben seine Wirkung nicht verfehlte. Lamar¬ tine suchte sich durch angestrengte Phantasten zum Glauben seiner Kindheit zurück zu reflectiren, um doch etwas Positives zu haben, bis er zuletzt ernstlich krank wurde, und der Arzt, um ihn seiner Einsamkeit zu entreißen, ihm die Bäder von Aix in Savoyen verordnete. Mit 25 Louisdor, die er von einem weitläufigen Verwandten entlehnt, reiste er nach Chambery ab. Wir kommen jetzt auf seine eigentlich praktische Laufbahn, die wir in einem der nächsten Hefte-zu verfolgen gedenken.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/460
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/460>, abgerufen am 23.06.2024.