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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Er fand, daß ihre Herzen für wehmüthige Liebesgeschichten weit empfänglicher
sind, als für politischen Weltschmerz. Neben diesen Studien und dem Fischfang
knüpfte er ein Liebesverhältniß mit der schönen Fischerstochter Grazie ita
an. Es konnte nicht ewig dauern; ein ernster Brief der Mutter rief ihn (Mai
1810) ins Vaterhaus zurück, das gute Mädchen starb vor Kummer und Sehn¬
sucht, und er feierte ihre" Tod in einem blumenreichen Gedicht: die erste Neue.
"So führte ich durch diese geschriebenen Thränen die Härte und Undankbarkeit
meines neunzehnjährigen Herzens. Ich kann diese Verse nicht lesen, ohne noch
einmal von diesem lieblichen Bild zu träumen, welches auf den durchsichtigen und
klagenden Wogen des Golf von Neapel schaukelt, und ohne mich selbst zu hassen.
Aber die Seelen verzeihen da oben. Die ihrige hat mir vergeben. Vergebt auch
ihr! ich habe geweint."

Trotz dieser banalen Redensarten ist die Geschichte von Graziella das lieb¬
lichste Idyll, welches Lamartine gedichtet hat.

Nach dem Einzug des Königs trat Lamartine, wie alle jungen Leute ans
den legitimistischen Familien, in die Garde ein., Die 10V Tage waren seine erste
politische Enttäuschung, sein erster Zweifel an der Macht der öffentlichen Mei¬
nung. Als Marmont's Corps, dem er angehörte, sich dem Kaiser anschloß, warf
er sich mit andern Royalisten nach Bethnne. Es mußte steh nach einigen Tagen
ergeben, und Lamartine wurde in seiue Heimath entlasse". Aber die Cvnscriptiv-
nen begannen aufs Neue, und um ihnen zu entgehen, um nicht zum Dienst des
Usurpators gepreßt zu werde", flüchtete er nach der Schweiz. Eine verarmte
royalistische Familie, de Viney, nahm ihn gastlich auf, der Haß gegen Bona-
parte bildete das verwandtschaftliche Band. Mit Fran von Srai-'l, die in der
Nähe zu Cvppet lebte, konnte er trotz seines heißen Wunsches keine Verbindung
anknüpfen, weil seine Beschützer, denen sie zu liberal war, ihrem Umgang aus¬
wichen. Doch hatte er einmal Gelegenheit, sie in einer rasch vvrüberbranseuden
Equipage zu bewundern. Er las den Gastfreunden seiue politischen, landschaftli¬
chen und verliebten Gedichte vor, und wurde zum erstenmal als schaffender Künst¬
ler verehrt. Endlich verließ er sie, um ihnen nicht zur Last zu fallen. Er trug
sich mit abenteuerlichen Plänen herum, er wollte sich als Hofmeister einer russi¬
schen Familie anschließen, mit seinen Zöglingen die Krim, das Land der Tscher-
kessen und Persien bereisen, um die Poesie, die Mysterien und die Abenteuer
des Orients zu genieße", die seine junge Phantasie mit aller Gluth eines halbge¬
bildeter Liebhabers ausmalte. Aber die Rückkehr des Königs ließ ihn diesen
Plan ausgebe".

Er kehrte in seine militärische Stellung nach Paris zurück. Sein hauptsäch¬
lichster Umgang war sein Freund Aymon de Virieu, eine skeptische Natur, die
zu der geistigen Entwickelung Lamartine'S in einem ähnlichen Verhältniß gestan¬
den zu haben scheint, wie Merk zu Göthe. Er ergänzte die Empfindungen und


Er fand, daß ihre Herzen für wehmüthige Liebesgeschichten weit empfänglicher
sind, als für politischen Weltschmerz. Neben diesen Studien und dem Fischfang
knüpfte er ein Liebesverhältniß mit der schönen Fischerstochter Grazie ita
an. Es konnte nicht ewig dauern; ein ernster Brief der Mutter rief ihn (Mai
1810) ins Vaterhaus zurück, das gute Mädchen starb vor Kummer und Sehn¬
sucht, und er feierte ihre» Tod in einem blumenreichen Gedicht: die erste Neue.
„So führte ich durch diese geschriebenen Thränen die Härte und Undankbarkeit
meines neunzehnjährigen Herzens. Ich kann diese Verse nicht lesen, ohne noch
einmal von diesem lieblichen Bild zu träumen, welches auf den durchsichtigen und
klagenden Wogen des Golf von Neapel schaukelt, und ohne mich selbst zu hassen.
Aber die Seelen verzeihen da oben. Die ihrige hat mir vergeben. Vergebt auch
ihr! ich habe geweint."

Trotz dieser banalen Redensarten ist die Geschichte von Graziella das lieb¬
lichste Idyll, welches Lamartine gedichtet hat.

Nach dem Einzug des Königs trat Lamartine, wie alle jungen Leute ans
den legitimistischen Familien, in die Garde ein., Die 10V Tage waren seine erste
politische Enttäuschung, sein erster Zweifel an der Macht der öffentlichen Mei¬
nung. Als Marmont's Corps, dem er angehörte, sich dem Kaiser anschloß, warf
er sich mit andern Royalisten nach Bethnne. Es mußte steh nach einigen Tagen
ergeben, und Lamartine wurde in seiue Heimath entlasse». Aber die Cvnscriptiv-
nen begannen aufs Neue, und um ihnen zu entgehen, um nicht zum Dienst des
Usurpators gepreßt zu werde», flüchtete er nach der Schweiz. Eine verarmte
royalistische Familie, de Viney, nahm ihn gastlich auf, der Haß gegen Bona-
parte bildete das verwandtschaftliche Band. Mit Fran von Srai-'l, die in der
Nähe zu Cvppet lebte, konnte er trotz seines heißen Wunsches keine Verbindung
anknüpfen, weil seine Beschützer, denen sie zu liberal war, ihrem Umgang aus¬
wichen. Doch hatte er einmal Gelegenheit, sie in einer rasch vvrüberbranseuden
Equipage zu bewundern. Er las den Gastfreunden seiue politischen, landschaftli¬
chen und verliebten Gedichte vor, und wurde zum erstenmal als schaffender Künst¬
ler verehrt. Endlich verließ er sie, um ihnen nicht zur Last zu fallen. Er trug
sich mit abenteuerlichen Plänen herum, er wollte sich als Hofmeister einer russi¬
schen Familie anschließen, mit seinen Zöglingen die Krim, das Land der Tscher-
kessen und Persien bereisen, um die Poesie, die Mysterien und die Abenteuer
des Orients zu genieße», die seine junge Phantasie mit aller Gluth eines halbge¬
bildeter Liebhabers ausmalte. Aber die Rückkehr des Königs ließ ihn diesen
Plan ausgebe».

Er kehrte in seine militärische Stellung nach Paris zurück. Sein hauptsäch¬
lichster Umgang war sein Freund Aymon de Virieu, eine skeptische Natur, die
zu der geistigen Entwickelung Lamartine'S in einem ähnlichen Verhältniß gestan¬
den zu haben scheint, wie Merk zu Göthe. Er ergänzte die Empfindungen und


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[0458] Er fand, daß ihre Herzen für wehmüthige Liebesgeschichten weit empfänglicher sind, als für politischen Weltschmerz. Neben diesen Studien und dem Fischfang knüpfte er ein Liebesverhältniß mit der schönen Fischerstochter Grazie ita an. Es konnte nicht ewig dauern; ein ernster Brief der Mutter rief ihn (Mai 1810) ins Vaterhaus zurück, das gute Mädchen starb vor Kummer und Sehn¬ sucht, und er feierte ihre» Tod in einem blumenreichen Gedicht: die erste Neue. „So führte ich durch diese geschriebenen Thränen die Härte und Undankbarkeit meines neunzehnjährigen Herzens. Ich kann diese Verse nicht lesen, ohne noch einmal von diesem lieblichen Bild zu träumen, welches auf den durchsichtigen und klagenden Wogen des Golf von Neapel schaukelt, und ohne mich selbst zu hassen. Aber die Seelen verzeihen da oben. Die ihrige hat mir vergeben. Vergebt auch ihr! ich habe geweint." Trotz dieser banalen Redensarten ist die Geschichte von Graziella das lieb¬ lichste Idyll, welches Lamartine gedichtet hat. Nach dem Einzug des Königs trat Lamartine, wie alle jungen Leute ans den legitimistischen Familien, in die Garde ein., Die 10V Tage waren seine erste politische Enttäuschung, sein erster Zweifel an der Macht der öffentlichen Mei¬ nung. Als Marmont's Corps, dem er angehörte, sich dem Kaiser anschloß, warf er sich mit andern Royalisten nach Bethnne. Es mußte steh nach einigen Tagen ergeben, und Lamartine wurde in seiue Heimath entlasse». Aber die Cvnscriptiv- nen begannen aufs Neue, und um ihnen zu entgehen, um nicht zum Dienst des Usurpators gepreßt zu werde», flüchtete er nach der Schweiz. Eine verarmte royalistische Familie, de Viney, nahm ihn gastlich auf, der Haß gegen Bona- parte bildete das verwandtschaftliche Band. Mit Fran von Srai-'l, die in der Nähe zu Cvppet lebte, konnte er trotz seines heißen Wunsches keine Verbindung anknüpfen, weil seine Beschützer, denen sie zu liberal war, ihrem Umgang aus¬ wichen. Doch hatte er einmal Gelegenheit, sie in einer rasch vvrüberbranseuden Equipage zu bewundern. Er las den Gastfreunden seiue politischen, landschaftli¬ chen und verliebten Gedichte vor, und wurde zum erstenmal als schaffender Künst¬ ler verehrt. Endlich verließ er sie, um ihnen nicht zur Last zu fallen. Er trug sich mit abenteuerlichen Plänen herum, er wollte sich als Hofmeister einer russi¬ schen Familie anschließen, mit seinen Zöglingen die Krim, das Land der Tscher- kessen und Persien bereisen, um die Poesie, die Mysterien und die Abenteuer des Orients zu genieße», die seine junge Phantasie mit aller Gluth eines halbge¬ bildeter Liebhabers ausmalte. Aber die Rückkehr des Königs ließ ihn diesen Plan ausgebe». Er kehrte in seine militärische Stellung nach Paris zurück. Sein hauptsäch¬ lichster Umgang war sein Freund Aymon de Virieu, eine skeptische Natur, die zu der geistigen Entwickelung Lamartine'S in einem ähnlichen Verhältniß gestan¬ den zu haben scheint, wie Merk zu Göthe. Er ergänzte die Empfindungen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/458>, abgerufen am 23.06.2024.