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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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bei einem alten Maler ein. Der alte Maler hatte einen Bruder, eine Art Volks¬
tribun, dessen republikanischer Haß gegen Bonaparte mit dem legitimistischen des jun¬
gen Lamartine glücklich correspondirte. Er fing nun an, sich für Alfieri und Monti
zu begeistern, und die republikanischen Traume des jungen Italien für das ange¬
messene Ideal einer strebsamen Jugend anzusehn. "Wie oft vergossen wir bittere
Thränen über das Loos dieser Welt, die allen Tyranneien preisgegeben ist! wo
die Philosophie und die Freiheit nur auf einen Augenblick aufblühten, um gleich
darauf überall verrathen, verkauft, mit Füßen getreten zu werden! Was für leise
Flüche quollen aus unserer Brust gegen diesen Tyrannen des menschlichen Geistes,
gegen diesen gekrönten Soldaten, der sich nnr in die Revolution tauchte, um ans
ihr die Kraft zu schöpfen, sie zu zerstören, und die Völker von Neuem den alten
Vorurtheilen, und der alten Knechtschaft preiszugeben! Von dieser Zeit schreibt
sich meine Sehnsucht nach der Emancipation des Menschengeschlechts, und mein
Haß gegen den Helden des Jahrhunderts, ein Haß, der ebenso von meinem Her¬
zen wie von meinem Verstände gerechtfertigt wurde, den die Zeit gekräftigt hat,
trojz der feilen Schmeichler seines Andenkens; ein Haß, mit dem ich mich rühme,
gelebt zu haben, und in dem ich zu sterben hoffe."

In den zerstreuten Studien über Rom empfing Lamartine eine Reihe mäch¬
tiger Eindrücke, aber nicht jene Klarheit des Wissens, die ohne Schule nicht ge¬
dacht werden kann. Von Rom reiste er nach Neapel, wo er den 1. April 1809
ankam. Die Räuberbanden des I?r>>, viavolc", welche unter dem Vorwand, den
Usurpator Murat zu bekämpfen, die Reisenden ausplünderten, und die französischen
Detachements, die alle Wege kreuzten, um sie einzufangen, führten ihn ans seinen
antiquarischen Träumen in die Wirklichkeit zurück. Er lebte in Neapel mit einem
Jugendfreunde von den Jesuiten her, Aymon de Virieu. "Müde der eitlen Be-
strebungen des Lebens, ohne sie durchgemacht zu haben, beneideten wir die glück¬
lichen Lazzaroni, die Tags im Meeresstrande schliefen, hin und wieder einen Jm¬
provisator anhörten und Abends mit den jungen Mädchen ihres Standes die Ta¬
rantella tanzten. Wir kannten ihre Gewohnheiten, ihren Charakter und ihre Sit¬
ten viel besser als die der eleganten Welt, in die wir niemals gingen. Dieses
Leben gefiel uns und schläferte jene fieberhafte Unrnhe der Seele ein, welche die
Einbildungskraft junger Leute ohne Frucht abnutzt vor der Stunde, wo ihr Schicksal
sie zum Handeln oder zum Denken ruft."

Dieses vagabuudirende Treiben führte zu der anmuthigsten Episode seines
Lebens. Er lernte eil.e Fischerfamilie anf der Insel Procida kennen, theilte ihre
Beschäftigungen, wohnte ein halbes Jahr laug unter ihrem Dache, las ihnen sen¬
timentale Schriften vor -- die Briefe des Jacopo Ortiö von Ugv Foscolo, den
italienischen Werther mit republikanischer Färbung, und ot VK-Zinio von
Bernardin de Se. Pierre -- um die Empfindungen des "Volkes" zu erproben.


Grmzbowl. I. 1850. 57

bei einem alten Maler ein. Der alte Maler hatte einen Bruder, eine Art Volks¬
tribun, dessen republikanischer Haß gegen Bonaparte mit dem legitimistischen des jun¬
gen Lamartine glücklich correspondirte. Er fing nun an, sich für Alfieri und Monti
zu begeistern, und die republikanischen Traume des jungen Italien für das ange¬
messene Ideal einer strebsamen Jugend anzusehn. „Wie oft vergossen wir bittere
Thränen über das Loos dieser Welt, die allen Tyranneien preisgegeben ist! wo
die Philosophie und die Freiheit nur auf einen Augenblick aufblühten, um gleich
darauf überall verrathen, verkauft, mit Füßen getreten zu werden! Was für leise
Flüche quollen aus unserer Brust gegen diesen Tyrannen des menschlichen Geistes,
gegen diesen gekrönten Soldaten, der sich nnr in die Revolution tauchte, um ans
ihr die Kraft zu schöpfen, sie zu zerstören, und die Völker von Neuem den alten
Vorurtheilen, und der alten Knechtschaft preiszugeben! Von dieser Zeit schreibt
sich meine Sehnsucht nach der Emancipation des Menschengeschlechts, und mein
Haß gegen den Helden des Jahrhunderts, ein Haß, der ebenso von meinem Her¬
zen wie von meinem Verstände gerechtfertigt wurde, den die Zeit gekräftigt hat,
trojz der feilen Schmeichler seines Andenkens; ein Haß, mit dem ich mich rühme,
gelebt zu haben, und in dem ich zu sterben hoffe."

In den zerstreuten Studien über Rom empfing Lamartine eine Reihe mäch¬
tiger Eindrücke, aber nicht jene Klarheit des Wissens, die ohne Schule nicht ge¬
dacht werden kann. Von Rom reiste er nach Neapel, wo er den 1. April 1809
ankam. Die Räuberbanden des I?r>>, viavolc», welche unter dem Vorwand, den
Usurpator Murat zu bekämpfen, die Reisenden ausplünderten, und die französischen
Detachements, die alle Wege kreuzten, um sie einzufangen, führten ihn ans seinen
antiquarischen Träumen in die Wirklichkeit zurück. Er lebte in Neapel mit einem
Jugendfreunde von den Jesuiten her, Aymon de Virieu. „Müde der eitlen Be-
strebungen des Lebens, ohne sie durchgemacht zu haben, beneideten wir die glück¬
lichen Lazzaroni, die Tags im Meeresstrande schliefen, hin und wieder einen Jm¬
provisator anhörten und Abends mit den jungen Mädchen ihres Standes die Ta¬
rantella tanzten. Wir kannten ihre Gewohnheiten, ihren Charakter und ihre Sit¬
ten viel besser als die der eleganten Welt, in die wir niemals gingen. Dieses
Leben gefiel uns und schläferte jene fieberhafte Unrnhe der Seele ein, welche die
Einbildungskraft junger Leute ohne Frucht abnutzt vor der Stunde, wo ihr Schicksal
sie zum Handeln oder zum Denken ruft."

Dieses vagabuudirende Treiben führte zu der anmuthigsten Episode seines
Lebens. Er lernte eil.e Fischerfamilie anf der Insel Procida kennen, theilte ihre
Beschäftigungen, wohnte ein halbes Jahr laug unter ihrem Dache, las ihnen sen¬
timentale Schriften vor — die Briefe des Jacopo Ortiö von Ugv Foscolo, den
italienischen Werther mit republikanischer Färbung, und ot VK-Zinio von
Bernardin de Se. Pierre — um die Empfindungen des „Volkes" zu erproben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/457>, abgerufen am 23.06.2024.