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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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seine Lieblingslectüre, unter den Dichtern Tasso, Dante, Petrarca, Milton, Cha¬
teaubriand, über alle hinaus aber trat Ossian, der Dichter des Nebels,' der Rui-
nen und der sentimentalen Gespenster. Baouv-Lvrmian hatte ihn damals über¬
setzt, und ganz Frankreich schwärmte für ihn. Die jungeu Mädchen begleiteten
ihre abreisenden und empfingen ihre wiederkehrenden Anbeter mit den Romanzen
von Morven. Das Zwielicht dieser selbstgefälligen Melancholie reizte die junge
Einbildungskraft des sechzehnjähriger Schülers, der bei den Jesuiten trefflich ge¬
lernt hatte, im Unbestimmten und Grenzenlosen zu verschwimmen. Er steckte die
kleine Handausgabe in die Tasche, wenn er auf die Jagd ging, las sie laut zum
Bellen der Hunde, und "benetzte das Schneefeld mit heißen Thränen." Er kam
sich vor wie eines jener verliebten, klagenden Gespenster, das mit Harfenbeglei¬
tung weint.

Das allgemeine Liebesgefühl sehnte sich nach einem Gegenstand. Ein sech¬
zehnjähriges Mädchen in der Nachbarschaft, das sich in einer Pariser Pension an
Gedichten und Romanen zu erbauen gelernt hatte, entsprach allen Anforderungen.
Man las ihr den Ossian vor, weinte mit ihr- in zärtlicher Sympathie unter dunk¬
len Tannenzweigen, machte sie ans Regenbogen und romantische Aussichten auf¬
merksam, sammelte ihr Blumen und Kräuter, die man in ein Exemplar des Mac-
phersonschen Urdichters einpreßte, beschäftigte sie mit einer schüchternen Blumen-
sprache, beschenkte sie mit verliebten Alexandrinern, und kam zuletzt auf den Ein¬
fall, bei nachtschlafender Zeit über den Gartenzaun zu klettern, zu einem pla¬
tonischen Stelldichein. Die beiden Liebenden saßen aus einer Steinbank, und
wußte" nicht recht, was sie mit einander ansaugen sollten. "O Lucy! begaun
endlich Fingal, wie malerisch fällt der Mondschein auf den gefrornen Bach und
den Schnee im Thal! Welches Glück, diese Aussicht mit Ihnen betrachten zu
können!" "Ja, seufzte sie, alles verschönert sich durch die Gemeinschaft mit einem
Freunde, der die Bewunderung für Aussichten theilt." -- Ein Hund, der die
Liebenden anbellte, störte das Rendezvous und machte der ganzen Geschichte ein
Ende.

Zur weitern Ausbildung wurde Lamartine nach Paris geschickt, wo er drei
Jahre blieb (bis 1808). "Ich lebte in allen Unordnungen und Ausschweifungen
einer müßigen Jugend. Es waren Jahre, die dem spätern Alter nur Demüthi¬
gung und Neue zurücklassen, deren Gedächtniß mau von sich fern hält, wie einen
bittern Nachgeschmack," welcher den Lippen weh thut."

Nach Ablauf derselben reiste er mit einer anverwandteu Familie nach Livorno"
Er verfehlte uicht, zum Gruß Italiens das Lied der Mignon und Reminiscenzen
aus der Corinna anzustimmen. Anstatt von Livorno mit seinen Freunden zurück¬
zukehren, reiste er heimlich uach Rom. Der Sänger David und seiue Nichte Ca-
milla, die ihm zuerst in männlicher Tracht begegnete, machten ihn mit den Alter¬
thümern der Stadt bekannt. Nach ihrer Abreise miethete er sich den Winter über


seine Lieblingslectüre, unter den Dichtern Tasso, Dante, Petrarca, Milton, Cha¬
teaubriand, über alle hinaus aber trat Ossian, der Dichter des Nebels,' der Rui-
nen und der sentimentalen Gespenster. Baouv-Lvrmian hatte ihn damals über¬
setzt, und ganz Frankreich schwärmte für ihn. Die jungeu Mädchen begleiteten
ihre abreisenden und empfingen ihre wiederkehrenden Anbeter mit den Romanzen
von Morven. Das Zwielicht dieser selbstgefälligen Melancholie reizte die junge
Einbildungskraft des sechzehnjähriger Schülers, der bei den Jesuiten trefflich ge¬
lernt hatte, im Unbestimmten und Grenzenlosen zu verschwimmen. Er steckte die
kleine Handausgabe in die Tasche, wenn er auf die Jagd ging, las sie laut zum
Bellen der Hunde, und „benetzte das Schneefeld mit heißen Thränen." Er kam
sich vor wie eines jener verliebten, klagenden Gespenster, das mit Harfenbeglei¬
tung weint.

Das allgemeine Liebesgefühl sehnte sich nach einem Gegenstand. Ein sech¬
zehnjähriges Mädchen in der Nachbarschaft, das sich in einer Pariser Pension an
Gedichten und Romanen zu erbauen gelernt hatte, entsprach allen Anforderungen.
Man las ihr den Ossian vor, weinte mit ihr- in zärtlicher Sympathie unter dunk¬
len Tannenzweigen, machte sie ans Regenbogen und romantische Aussichten auf¬
merksam, sammelte ihr Blumen und Kräuter, die man in ein Exemplar des Mac-
phersonschen Urdichters einpreßte, beschäftigte sie mit einer schüchternen Blumen-
sprache, beschenkte sie mit verliebten Alexandrinern, und kam zuletzt auf den Ein¬
fall, bei nachtschlafender Zeit über den Gartenzaun zu klettern, zu einem pla¬
tonischen Stelldichein. Die beiden Liebenden saßen aus einer Steinbank, und
wußte» nicht recht, was sie mit einander ansaugen sollten. „O Lucy! begaun
endlich Fingal, wie malerisch fällt der Mondschein auf den gefrornen Bach und
den Schnee im Thal! Welches Glück, diese Aussicht mit Ihnen betrachten zu
können!" „Ja, seufzte sie, alles verschönert sich durch die Gemeinschaft mit einem
Freunde, der die Bewunderung für Aussichten theilt." — Ein Hund, der die
Liebenden anbellte, störte das Rendezvous und machte der ganzen Geschichte ein
Ende.

Zur weitern Ausbildung wurde Lamartine nach Paris geschickt, wo er drei
Jahre blieb (bis 1808). „Ich lebte in allen Unordnungen und Ausschweifungen
einer müßigen Jugend. Es waren Jahre, die dem spätern Alter nur Demüthi¬
gung und Neue zurücklassen, deren Gedächtniß mau von sich fern hält, wie einen
bittern Nachgeschmack," welcher den Lippen weh thut."

Nach Ablauf derselben reiste er mit einer anverwandteu Familie nach Livorno»
Er verfehlte uicht, zum Gruß Italiens das Lied der Mignon und Reminiscenzen
aus der Corinna anzustimmen. Anstatt von Livorno mit seinen Freunden zurück¬
zukehren, reiste er heimlich uach Rom. Der Sänger David und seiue Nichte Ca-
milla, die ihm zuerst in männlicher Tracht begegnete, machten ihn mit den Alter¬
thümern der Stadt bekannt. Nach ihrer Abreise miethete er sich den Winter über


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[0456] seine Lieblingslectüre, unter den Dichtern Tasso, Dante, Petrarca, Milton, Cha¬ teaubriand, über alle hinaus aber trat Ossian, der Dichter des Nebels,' der Rui- nen und der sentimentalen Gespenster. Baouv-Lvrmian hatte ihn damals über¬ setzt, und ganz Frankreich schwärmte für ihn. Die jungeu Mädchen begleiteten ihre abreisenden und empfingen ihre wiederkehrenden Anbeter mit den Romanzen von Morven. Das Zwielicht dieser selbstgefälligen Melancholie reizte die junge Einbildungskraft des sechzehnjähriger Schülers, der bei den Jesuiten trefflich ge¬ lernt hatte, im Unbestimmten und Grenzenlosen zu verschwimmen. Er steckte die kleine Handausgabe in die Tasche, wenn er auf die Jagd ging, las sie laut zum Bellen der Hunde, und „benetzte das Schneefeld mit heißen Thränen." Er kam sich vor wie eines jener verliebten, klagenden Gespenster, das mit Harfenbeglei¬ tung weint. Das allgemeine Liebesgefühl sehnte sich nach einem Gegenstand. Ein sech¬ zehnjähriges Mädchen in der Nachbarschaft, das sich in einer Pariser Pension an Gedichten und Romanen zu erbauen gelernt hatte, entsprach allen Anforderungen. Man las ihr den Ossian vor, weinte mit ihr- in zärtlicher Sympathie unter dunk¬ len Tannenzweigen, machte sie ans Regenbogen und romantische Aussichten auf¬ merksam, sammelte ihr Blumen und Kräuter, die man in ein Exemplar des Mac- phersonschen Urdichters einpreßte, beschäftigte sie mit einer schüchternen Blumen- sprache, beschenkte sie mit verliebten Alexandrinern, und kam zuletzt auf den Ein¬ fall, bei nachtschlafender Zeit über den Gartenzaun zu klettern, zu einem pla¬ tonischen Stelldichein. Die beiden Liebenden saßen aus einer Steinbank, und wußte» nicht recht, was sie mit einander ansaugen sollten. „O Lucy! begaun endlich Fingal, wie malerisch fällt der Mondschein auf den gefrornen Bach und den Schnee im Thal! Welches Glück, diese Aussicht mit Ihnen betrachten zu können!" „Ja, seufzte sie, alles verschönert sich durch die Gemeinschaft mit einem Freunde, der die Bewunderung für Aussichten theilt." — Ein Hund, der die Liebenden anbellte, störte das Rendezvous und machte der ganzen Geschichte ein Ende. Zur weitern Ausbildung wurde Lamartine nach Paris geschickt, wo er drei Jahre blieb (bis 1808). „Ich lebte in allen Unordnungen und Ausschweifungen einer müßigen Jugend. Es waren Jahre, die dem spätern Alter nur Demüthi¬ gung und Neue zurücklassen, deren Gedächtniß mau von sich fern hält, wie einen bittern Nachgeschmack," welcher den Lippen weh thut." Nach Ablauf derselben reiste er mit einer anverwandteu Familie nach Livorno» Er verfehlte uicht, zum Gruß Italiens das Lied der Mignon und Reminiscenzen aus der Corinna anzustimmen. Anstatt von Livorno mit seinen Freunden zurück¬ zukehren, reiste er heimlich uach Rom. Der Sänger David und seiue Nichte Ca- milla, die ihm zuerst in männlicher Tracht begegnete, machten ihn mit den Alter¬ thümern der Stadt bekannt. Nach ihrer Abreise miethete er sich den Winter über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/456>, abgerufen am 23.06.2024.