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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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gen, die Weihen, die häufig wiederholten Ceremonien, gehoben durch die Pracht
der Altäre, der Kleidungen, der Gesänge der Weihrauch, die Blumen, übten auf
unsere kindliche Entwickelungsstufe eine sinnliche Wirkung aus, wie der religiöse
Rausch im Orient. Die Geistlichen übten diese Andacht aus der vollen Gluth
ihres Glaubens. Ihre Sanftmuth flößte mir wieder das Gefühl meiner Pflicht
ein, die Gemeinschaft Gottes, die Lust der Meditationen und Gebete, die Gewohn¬
heit der innern Sammlung, und die Extase in der Anbetung, die nur mit der
ersten Liebe verglichen werden kann. -- "Jetzt wird der Spiegel wieder vorgesucht.
"Meine Physiognomie wurde durch diese Empfindungen entwickelt. An Stelle der
kindlichen Flüchtigkeit trat ein milder und sanfter Ernst, die nachdenkliche Samm¬
lung des Blickes und der Züge, welche dem Gesicht Sinn und Einheit gibt. Ich
sah aus wie eine Statue der Jugend, die man einen Augenblick
vom Altar nimmt, um sie jungen Leuten als Muster vorzuhalten.
Meine Spielkameraden näherten sich mir mit einer gewissen Ehrfurcht, und liebten
mich mit Scheu."

"Meine glücklichsten Stunden woren Abends, wenn ich mich dem Spiel ent¬
zog, und durch eine geheime Pforte in die Kirche eintrat. Ich versteckte mich hin¬
ter einen Pfeiler, hüllte mich in meinen Mantel, stützte meine Stirn an den kal¬
ten Marmor einer Balustrade, versenkte mich in eine stumme, aber unversiegliche
Anbetung, und fühlte nicht mehr die Erde unter meinen Knien; mein Wesen war
in Gott aufgegangen, wie das Atom, von der Sonne angezogen, sich in der wo¬
genden Atmosphäre verliert, durchsichtig wie der Aether, flüchtig wie die Luft,
leuchtend wie das Licht." --

Diese Darstellung bedarf eigentlich keines Commentars. Das Wesen, zu
welchem die Jesuiten ihre Zöglinge heranbildeten, war liebenswürdige Lüge. Die
glvße Achtung, mit der sämmtliche Franzosen der höhern Klasse von diesen Anstalten
sprechen, ist charakteristisch für die Nation. In England sind die Schulen ein
beständiger Kampf übermüthiger Freiheit gegen unverstellte Disciplin, die noch
gegen den 14jährigen Knaben die Peitsche anwendet. Der Schwache leidet in die¬
sem unerbittlichen Guerillakrieg, für die kräftige Anlage sind die Streiche, die man
den Lehrern spielt, ebenso bildend, als der Unterricht selbst, dessen Gründlichkeit
durch dergleichen homerische Episoden nicht leidet.

Nach drei Jahren (Winter 1805) kehrte Lamartine zu seiner Familie zurück.
Er erhielt jetzt, als junger Mann, ein eigenes Zimmer, eine Uhr, ein Reitpferd
und ein Gewehr, und bemächtigte sich der Schätze einer Leihbibliothek. Die
schlüpfrigen Romane der Kaiserzeit konnten seine zartgestimmte Seele nur abschrecken,
um so begieriger sog er das süße Gift jener ätherischen Sinnlichkeit ein, die in
sentimentalen Liebesgeschichten das junge Herz zu träumerischem Müßiggang ver¬
leitet. Frau v. Stael, Me. Collin, Frau v. Flahcmlt, Nichardson, der Abbe
Prevost (Verfasser von Manon Lescaul) und unser deutsche Lafontaine wurden


gen, die Weihen, die häufig wiederholten Ceremonien, gehoben durch die Pracht
der Altäre, der Kleidungen, der Gesänge der Weihrauch, die Blumen, übten auf
unsere kindliche Entwickelungsstufe eine sinnliche Wirkung aus, wie der religiöse
Rausch im Orient. Die Geistlichen übten diese Andacht aus der vollen Gluth
ihres Glaubens. Ihre Sanftmuth flößte mir wieder das Gefühl meiner Pflicht
ein, die Gemeinschaft Gottes, die Lust der Meditationen und Gebete, die Gewohn¬
heit der innern Sammlung, und die Extase in der Anbetung, die nur mit der
ersten Liebe verglichen werden kann. — „Jetzt wird der Spiegel wieder vorgesucht.
„Meine Physiognomie wurde durch diese Empfindungen entwickelt. An Stelle der
kindlichen Flüchtigkeit trat ein milder und sanfter Ernst, die nachdenkliche Samm¬
lung des Blickes und der Züge, welche dem Gesicht Sinn und Einheit gibt. Ich
sah aus wie eine Statue der Jugend, die man einen Augenblick
vom Altar nimmt, um sie jungen Leuten als Muster vorzuhalten.
Meine Spielkameraden näherten sich mir mit einer gewissen Ehrfurcht, und liebten
mich mit Scheu."

„Meine glücklichsten Stunden woren Abends, wenn ich mich dem Spiel ent¬
zog, und durch eine geheime Pforte in die Kirche eintrat. Ich versteckte mich hin¬
ter einen Pfeiler, hüllte mich in meinen Mantel, stützte meine Stirn an den kal¬
ten Marmor einer Balustrade, versenkte mich in eine stumme, aber unversiegliche
Anbetung, und fühlte nicht mehr die Erde unter meinen Knien; mein Wesen war
in Gott aufgegangen, wie das Atom, von der Sonne angezogen, sich in der wo¬
genden Atmosphäre verliert, durchsichtig wie der Aether, flüchtig wie die Luft,
leuchtend wie das Licht." —

Diese Darstellung bedarf eigentlich keines Commentars. Das Wesen, zu
welchem die Jesuiten ihre Zöglinge heranbildeten, war liebenswürdige Lüge. Die
glvße Achtung, mit der sämmtliche Franzosen der höhern Klasse von diesen Anstalten
sprechen, ist charakteristisch für die Nation. In England sind die Schulen ein
beständiger Kampf übermüthiger Freiheit gegen unverstellte Disciplin, die noch
gegen den 14jährigen Knaben die Peitsche anwendet. Der Schwache leidet in die¬
sem unerbittlichen Guerillakrieg, für die kräftige Anlage sind die Streiche, die man
den Lehrern spielt, ebenso bildend, als der Unterricht selbst, dessen Gründlichkeit
durch dergleichen homerische Episoden nicht leidet.

Nach drei Jahren (Winter 1805) kehrte Lamartine zu seiner Familie zurück.
Er erhielt jetzt, als junger Mann, ein eigenes Zimmer, eine Uhr, ein Reitpferd
und ein Gewehr, und bemächtigte sich der Schätze einer Leihbibliothek. Die
schlüpfrigen Romane der Kaiserzeit konnten seine zartgestimmte Seele nur abschrecken,
um so begieriger sog er das süße Gift jener ätherischen Sinnlichkeit ein, die in
sentimentalen Liebesgeschichten das junge Herz zu träumerischem Müßiggang ver¬
leitet. Frau v. Stael, Me. Collin, Frau v. Flahcmlt, Nichardson, der Abbe
Prevost (Verfasser von Manon Lescaul) und unser deutsche Lafontaine wurden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/455>, abgerufen am 23.06.2024.