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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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nicht in dem religiösen Sinn seiner Mutter. Raynal, Voltaire, Rousseau waren
seine Hauptlectüre. Aber er war Royalist, wie dieses ganze Geschlecht, dessen
Doctrinen die Revolution befriedigt, dessen Lage sie aber gestört hatte. Der reli¬
giöse Jndifferentismus Lamartine's, den die sentimentale christliche Tünche nur schwach
überdeckte, und der immer eine Unsicherheit der religiös-sittlichen Basis bezeichnet,
hing mit dieser doppelten Richtung zusammen. Sein Christenthum war in den
Tapeten und Laubgängen seines väterlichen Schlosses; in seinem Geist hatte es
keine Stätte.

Dies ivyllisch sreie Leben mußte endlich aufhören. Er wurde in eine Erziehungs¬
anstalt zu Lyon gebracht, die einigen Ruf hatte. Die Disciplin und der ernst¬
hafte Unterricht fremder Lehrer war ihm zuwider, in den Muthwillen und die
kleinen Reibungen der Mitschüler konnte er sich, bisher an die Verehrung gewöhnt,
die ein Dorsknabe dem Junker nie versagen wird, nicht finden. Er entlief, und
wurde nach einigen Umständen in die Jesuitenschule zu Belley gebracht, an der
Grenze von Savoyen. "Dieses Kollegium stach sehr günstig gegen die Tambour¬
erziehung 'in den kaiserlichen Lyceen ab. wo Bonaparte die Gedanken von ganz
Frankreich in Uniform stecken und die Nation an's Commando gewöhnen wollte.
Die adeligen Familien, die ihm abhold waren, schickten aus Frankreich, Savoyen,
Deutschland und Polen ihre Söhne in diese aufblühende Anstalt. 300 Knaben
aus allen Gegenden empfingen dort eine ebenso fromme als liberale Erziehung."
"So lange der Geist des Jahrhunderts sich nicht zu einem religiösen Glauben
gestaltet, der die Seele mit sich fortreißt, werden die weltlichen Erziehungsanstal¬
ten vergebens mit den geistlichen wetteisern. Kein Budget reicht hin, im Kauf
der Seelen ein Korn des Glaubens zu überbieten." "Ich erkannte bald den Werth
eines Unterrichts, der im Namen Gottes mit religiöser Hingebung ertheilt wird.
Ich fand Gott wieder, die Reinheit, das Gebet, die christliche Liebe, eine sanfte
väterliche Aufsicht, den wohlwollenden Ton der Familie. Gern beugte ich mich
unter ein Joch, das vortreffliche Lehrer uns sanft und leicht zu machen wußten. Ihre
Kunst bestand darin, uns für den Erfolg des Hauses zu interessiren, und uns
durch unseren eigenen Enthusiasmus zu leiten. Unsere Seelen fanden ihre Schwin¬
gen wieder, und erhoben sich im natürliche" Flug dem Guten und Schönen ent¬
gegen; das religiöse Gefühl wurde uus liebenswürdig und die Liebe Gottes un¬
sere Leidenschaft. Die Frömmigkeit wurde der Hebel meiner Arbeit. Ich schloß
innige Freundschaft mit Knaben, die ebenso rein und ebenso glücklich waren, als
ich." "Meine schwärmerische Neigung zur Natur vermählte sich in meiner Seele
mit himmlischen Gedanken und Visionen. Eine sanfte Melancholie warf auf meine
natürliche Heiterkeit einen Schleier, und gab meinen Gedanken wie meiner Stimme
einen ernsteren Accent. Meine Eindrücke wurden so stark, daß sie schmerzlich wur¬
den. Diese unbestimmte Traurigkeit, welche alle irdische Dinge in mir erregten,
wandte meine Seele dem Unendlichen zu. Die häufigen Gebete, die Betrachtun-


nicht in dem religiösen Sinn seiner Mutter. Raynal, Voltaire, Rousseau waren
seine Hauptlectüre. Aber er war Royalist, wie dieses ganze Geschlecht, dessen
Doctrinen die Revolution befriedigt, dessen Lage sie aber gestört hatte. Der reli¬
giöse Jndifferentismus Lamartine's, den die sentimentale christliche Tünche nur schwach
überdeckte, und der immer eine Unsicherheit der religiös-sittlichen Basis bezeichnet,
hing mit dieser doppelten Richtung zusammen. Sein Christenthum war in den
Tapeten und Laubgängen seines väterlichen Schlosses; in seinem Geist hatte es
keine Stätte.

Dies ivyllisch sreie Leben mußte endlich aufhören. Er wurde in eine Erziehungs¬
anstalt zu Lyon gebracht, die einigen Ruf hatte. Die Disciplin und der ernst¬
hafte Unterricht fremder Lehrer war ihm zuwider, in den Muthwillen und die
kleinen Reibungen der Mitschüler konnte er sich, bisher an die Verehrung gewöhnt,
die ein Dorsknabe dem Junker nie versagen wird, nicht finden. Er entlief, und
wurde nach einigen Umständen in die Jesuitenschule zu Belley gebracht, an der
Grenze von Savoyen. „Dieses Kollegium stach sehr günstig gegen die Tambour¬
erziehung 'in den kaiserlichen Lyceen ab. wo Bonaparte die Gedanken von ganz
Frankreich in Uniform stecken und die Nation an's Commando gewöhnen wollte.
Die adeligen Familien, die ihm abhold waren, schickten aus Frankreich, Savoyen,
Deutschland und Polen ihre Söhne in diese aufblühende Anstalt. 300 Knaben
aus allen Gegenden empfingen dort eine ebenso fromme als liberale Erziehung."
„So lange der Geist des Jahrhunderts sich nicht zu einem religiösen Glauben
gestaltet, der die Seele mit sich fortreißt, werden die weltlichen Erziehungsanstal¬
ten vergebens mit den geistlichen wetteisern. Kein Budget reicht hin, im Kauf
der Seelen ein Korn des Glaubens zu überbieten." „Ich erkannte bald den Werth
eines Unterrichts, der im Namen Gottes mit religiöser Hingebung ertheilt wird.
Ich fand Gott wieder, die Reinheit, das Gebet, die christliche Liebe, eine sanfte
väterliche Aufsicht, den wohlwollenden Ton der Familie. Gern beugte ich mich
unter ein Joch, das vortreffliche Lehrer uns sanft und leicht zu machen wußten. Ihre
Kunst bestand darin, uns für den Erfolg des Hauses zu interessiren, und uns
durch unseren eigenen Enthusiasmus zu leiten. Unsere Seelen fanden ihre Schwin¬
gen wieder, und erhoben sich im natürliche» Flug dem Guten und Schönen ent¬
gegen; das religiöse Gefühl wurde uus liebenswürdig und die Liebe Gottes un¬
sere Leidenschaft. Die Frömmigkeit wurde der Hebel meiner Arbeit. Ich schloß
innige Freundschaft mit Knaben, die ebenso rein und ebenso glücklich waren, als
ich." „Meine schwärmerische Neigung zur Natur vermählte sich in meiner Seele
mit himmlischen Gedanken und Visionen. Eine sanfte Melancholie warf auf meine
natürliche Heiterkeit einen Schleier, und gab meinen Gedanken wie meiner Stimme
einen ernsteren Accent. Meine Eindrücke wurden so stark, daß sie schmerzlich wur¬
den. Diese unbestimmte Traurigkeit, welche alle irdische Dinge in mir erregten,
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[0454] nicht in dem religiösen Sinn seiner Mutter. Raynal, Voltaire, Rousseau waren seine Hauptlectüre. Aber er war Royalist, wie dieses ganze Geschlecht, dessen Doctrinen die Revolution befriedigt, dessen Lage sie aber gestört hatte. Der reli¬ giöse Jndifferentismus Lamartine's, den die sentimentale christliche Tünche nur schwach überdeckte, und der immer eine Unsicherheit der religiös-sittlichen Basis bezeichnet, hing mit dieser doppelten Richtung zusammen. Sein Christenthum war in den Tapeten und Laubgängen seines väterlichen Schlosses; in seinem Geist hatte es keine Stätte. Dies ivyllisch sreie Leben mußte endlich aufhören. Er wurde in eine Erziehungs¬ anstalt zu Lyon gebracht, die einigen Ruf hatte. Die Disciplin und der ernst¬ hafte Unterricht fremder Lehrer war ihm zuwider, in den Muthwillen und die kleinen Reibungen der Mitschüler konnte er sich, bisher an die Verehrung gewöhnt, die ein Dorsknabe dem Junker nie versagen wird, nicht finden. Er entlief, und wurde nach einigen Umständen in die Jesuitenschule zu Belley gebracht, an der Grenze von Savoyen. „Dieses Kollegium stach sehr günstig gegen die Tambour¬ erziehung 'in den kaiserlichen Lyceen ab. wo Bonaparte die Gedanken von ganz Frankreich in Uniform stecken und die Nation an's Commando gewöhnen wollte. Die adeligen Familien, die ihm abhold waren, schickten aus Frankreich, Savoyen, Deutschland und Polen ihre Söhne in diese aufblühende Anstalt. 300 Knaben aus allen Gegenden empfingen dort eine ebenso fromme als liberale Erziehung." „So lange der Geist des Jahrhunderts sich nicht zu einem religiösen Glauben gestaltet, der die Seele mit sich fortreißt, werden die weltlichen Erziehungsanstal¬ ten vergebens mit den geistlichen wetteisern. Kein Budget reicht hin, im Kauf der Seelen ein Korn des Glaubens zu überbieten." „Ich erkannte bald den Werth eines Unterrichts, der im Namen Gottes mit religiöser Hingebung ertheilt wird. Ich fand Gott wieder, die Reinheit, das Gebet, die christliche Liebe, eine sanfte väterliche Aufsicht, den wohlwollenden Ton der Familie. Gern beugte ich mich unter ein Joch, das vortreffliche Lehrer uns sanft und leicht zu machen wußten. Ihre Kunst bestand darin, uns für den Erfolg des Hauses zu interessiren, und uns durch unseren eigenen Enthusiasmus zu leiten. Unsere Seelen fanden ihre Schwin¬ gen wieder, und erhoben sich im natürliche» Flug dem Guten und Schönen ent¬ gegen; das religiöse Gefühl wurde uus liebenswürdig und die Liebe Gottes un¬ sere Leidenschaft. Die Frömmigkeit wurde der Hebel meiner Arbeit. Ich schloß innige Freundschaft mit Knaben, die ebenso rein und ebenso glücklich waren, als ich." „Meine schwärmerische Neigung zur Natur vermählte sich in meiner Seele mit himmlischen Gedanken und Visionen. Eine sanfte Melancholie warf auf meine natürliche Heiterkeit einen Schleier, und gab meinen Gedanken wie meiner Stimme einen ernsteren Accent. Meine Eindrücke wurden so stark, daß sie schmerzlich wur¬ den. Diese unbestimmte Traurigkeit, welche alle irdische Dinge in mir erregten, wandte meine Seele dem Unendlichen zu. Die häufigen Gebete, die Betrachtun-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/454>, abgerufen am 23.06.2024.