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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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der zweite wurde wider seinen Willen zum Geistlichen bestimmt, zwei Töchter in's
Kloster gesteckt, die dritte als Kanonissin in einem Fräuleinstift untergebracht.
Der jüngste Sohn -- Lamartine's Vater -- trat mit dem 6. Jahr in dasselbe
Regiment ein, in welchem vor ihm sein Vater gedient hatte. Seine Bestimmung
war, ehelos zu bleiben, in der bescheidenen Stellung eines Kapitäns alt zu wer¬
den , von Zeit zu Zeit auf Urlaub in das väterliche Haus zu kommen, im Lauf
der Jahre das Ludwigkreuz zu gewinnen, das höchste Ziel für den Ehrgeiz eines
Landedelmanns; im höhern Alter mit einer kleinen Pension auf einem der Güter
seines ältesten Bruders wohnen, den Garten in Ordnung halten, mit dem Pfarrer
auf die Jagd gehn, die Pferde dressiren, die Kinder unterhalten, mit den Nach¬
barn Trictrac spielen, gegen alle Welt dienstfertig sein, von allen als gutes altes
Hausmöbel behandelt zu werde", bis ihn endlich Alterschwäche ganz an die Wände
seiner Dachkammer bannte, an welchen sein alter Degen hing, und man sich
eines Tages sagte: der Chevalier ist gestorben.

Die Sache kam anders. Eine Körperschwäche des älteren Bruders brachte
die Familie auf die Idee, deu Chevalier zu verheirathen. Ein unerhörter Fall,
dem man sich erst nach langem Sträuben fügte, um doch das Haus uicht aus¬
sterben zu lassen.

In einem Fräuleinstift zu Salles, einem Dorf in der Nähe vou M^con,
lebte damals ein schönes löjähriges Mädchen, Aux des Roys, die Tochter eines
Intendanten des Hauses Orleans, gemeinschaftlich mit der Schwester des Ehe"
valiers. Diese Stifter warm ziemlich die einzige Gelegenheit, in jenen Tagen
verhärteter Convenienz, eine Heirath aus Neigung zu schließen. Sie bestan¬
den aus einer Reihe kleiner Häuschen, nach einem gemeinsamen Plan malerisch
um die Kapelle des Kapitels gruppirt, die in der Regel in einer angenehmen
Gegend lag. Jedes Fräulein hatte, sobald es mündig war, seinen eignen Haus¬
halt. Sie blieben nur während der schönen Jahreszeit in ihrem Kloster, im Win¬
ter kehrten sie zu ihren Familien zurück, um die Honneurs des Hauses zu machen.
Ihr Dienst war nicht strenge; sie mußten zweimal des Tages in der Messe singen,
und auch damit wurde es uicht genau genommen. Jede Kanonissin durfte ihren
Bruder empfangen, und ihn ihren Freundinnen vorstellen. Daraus entspannen
sich zarte und romantische Verhältnisse. Eins von diesen führte die Eltern La¬
martine's zusammen.

Aux des Roys war zu Se. Cloud geboren, und mit Louis Philipp zusam¬
men erzogen, dessen zweite Gouvernante ihre Mutter war. Sie hatte schon als
Kind Gelegenheit gehabt, die großen Geister der damaligen Zeit in der Nähe zu
betrachten. Voltaire, d'Alembert, Laclos (Verfasser der I^i-usons ä-inAvivuses),
Frau von Genlis, Buffon, Gibbon, Necker standen in ununterbrochenem engen Ver¬
kehr mit ihrer Mutter; am höchsten aber in den Familien-Erinnerungen stand
I. I. Rousseau, der Logiker zärtlich empfindender Seelen.


der zweite wurde wider seinen Willen zum Geistlichen bestimmt, zwei Töchter in's
Kloster gesteckt, die dritte als Kanonissin in einem Fräuleinstift untergebracht.
Der jüngste Sohn — Lamartine's Vater — trat mit dem 6. Jahr in dasselbe
Regiment ein, in welchem vor ihm sein Vater gedient hatte. Seine Bestimmung
war, ehelos zu bleiben, in der bescheidenen Stellung eines Kapitäns alt zu wer¬
den , von Zeit zu Zeit auf Urlaub in das väterliche Haus zu kommen, im Lauf
der Jahre das Ludwigkreuz zu gewinnen, das höchste Ziel für den Ehrgeiz eines
Landedelmanns; im höhern Alter mit einer kleinen Pension auf einem der Güter
seines ältesten Bruders wohnen, den Garten in Ordnung halten, mit dem Pfarrer
auf die Jagd gehn, die Pferde dressiren, die Kinder unterhalten, mit den Nach¬
barn Trictrac spielen, gegen alle Welt dienstfertig sein, von allen als gutes altes
Hausmöbel behandelt zu werde», bis ihn endlich Alterschwäche ganz an die Wände
seiner Dachkammer bannte, an welchen sein alter Degen hing, und man sich
eines Tages sagte: der Chevalier ist gestorben.

Die Sache kam anders. Eine Körperschwäche des älteren Bruders brachte
die Familie auf die Idee, deu Chevalier zu verheirathen. Ein unerhörter Fall,
dem man sich erst nach langem Sträuben fügte, um doch das Haus uicht aus¬
sterben zu lassen.

In einem Fräuleinstift zu Salles, einem Dorf in der Nähe vou M^con,
lebte damals ein schönes löjähriges Mädchen, Aux des Roys, die Tochter eines
Intendanten des Hauses Orleans, gemeinschaftlich mit der Schwester des Ehe»
valiers. Diese Stifter warm ziemlich die einzige Gelegenheit, in jenen Tagen
verhärteter Convenienz, eine Heirath aus Neigung zu schließen. Sie bestan¬
den aus einer Reihe kleiner Häuschen, nach einem gemeinsamen Plan malerisch
um die Kapelle des Kapitels gruppirt, die in der Regel in einer angenehmen
Gegend lag. Jedes Fräulein hatte, sobald es mündig war, seinen eignen Haus¬
halt. Sie blieben nur während der schönen Jahreszeit in ihrem Kloster, im Win¬
ter kehrten sie zu ihren Familien zurück, um die Honneurs des Hauses zu machen.
Ihr Dienst war nicht strenge; sie mußten zweimal des Tages in der Messe singen,
und auch damit wurde es uicht genau genommen. Jede Kanonissin durfte ihren
Bruder empfangen, und ihn ihren Freundinnen vorstellen. Daraus entspannen
sich zarte und romantische Verhältnisse. Eins von diesen führte die Eltern La¬
martine's zusammen.

Aux des Roys war zu Se. Cloud geboren, und mit Louis Philipp zusam¬
men erzogen, dessen zweite Gouvernante ihre Mutter war. Sie hatte schon als
Kind Gelegenheit gehabt, die großen Geister der damaligen Zeit in der Nähe zu
betrachten. Voltaire, d'Alembert, Laclos (Verfasser der I^i-usons ä-inAvivuses),
Frau von Genlis, Buffon, Gibbon, Necker standen in ununterbrochenem engen Ver¬
kehr mit ihrer Mutter; am höchsten aber in den Familien-Erinnerungen stand
I. I. Rousseau, der Logiker zärtlich empfindender Seelen.


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[0450] der zweite wurde wider seinen Willen zum Geistlichen bestimmt, zwei Töchter in's Kloster gesteckt, die dritte als Kanonissin in einem Fräuleinstift untergebracht. Der jüngste Sohn — Lamartine's Vater — trat mit dem 6. Jahr in dasselbe Regiment ein, in welchem vor ihm sein Vater gedient hatte. Seine Bestimmung war, ehelos zu bleiben, in der bescheidenen Stellung eines Kapitäns alt zu wer¬ den , von Zeit zu Zeit auf Urlaub in das väterliche Haus zu kommen, im Lauf der Jahre das Ludwigkreuz zu gewinnen, das höchste Ziel für den Ehrgeiz eines Landedelmanns; im höhern Alter mit einer kleinen Pension auf einem der Güter seines ältesten Bruders wohnen, den Garten in Ordnung halten, mit dem Pfarrer auf die Jagd gehn, die Pferde dressiren, die Kinder unterhalten, mit den Nach¬ barn Trictrac spielen, gegen alle Welt dienstfertig sein, von allen als gutes altes Hausmöbel behandelt zu werde», bis ihn endlich Alterschwäche ganz an die Wände seiner Dachkammer bannte, an welchen sein alter Degen hing, und man sich eines Tages sagte: der Chevalier ist gestorben. Die Sache kam anders. Eine Körperschwäche des älteren Bruders brachte die Familie auf die Idee, deu Chevalier zu verheirathen. Ein unerhörter Fall, dem man sich erst nach langem Sträuben fügte, um doch das Haus uicht aus¬ sterben zu lassen. In einem Fräuleinstift zu Salles, einem Dorf in der Nähe vou M^con, lebte damals ein schönes löjähriges Mädchen, Aux des Roys, die Tochter eines Intendanten des Hauses Orleans, gemeinschaftlich mit der Schwester des Ehe» valiers. Diese Stifter warm ziemlich die einzige Gelegenheit, in jenen Tagen verhärteter Convenienz, eine Heirath aus Neigung zu schließen. Sie bestan¬ den aus einer Reihe kleiner Häuschen, nach einem gemeinsamen Plan malerisch um die Kapelle des Kapitels gruppirt, die in der Regel in einer angenehmen Gegend lag. Jedes Fräulein hatte, sobald es mündig war, seinen eignen Haus¬ halt. Sie blieben nur während der schönen Jahreszeit in ihrem Kloster, im Win¬ ter kehrten sie zu ihren Familien zurück, um die Honneurs des Hauses zu machen. Ihr Dienst war nicht strenge; sie mußten zweimal des Tages in der Messe singen, und auch damit wurde es uicht genau genommen. Jede Kanonissin durfte ihren Bruder empfangen, und ihn ihren Freundinnen vorstellen. Daraus entspannen sich zarte und romantische Verhältnisse. Eins von diesen führte die Eltern La¬ martine's zusammen. Aux des Roys war zu Se. Cloud geboren, und mit Louis Philipp zusam¬ men erzogen, dessen zweite Gouvernante ihre Mutter war. Sie hatte schon als Kind Gelegenheit gehabt, die großen Geister der damaligen Zeit in der Nähe zu betrachten. Voltaire, d'Alembert, Laclos (Verfasser der I^i-usons ä-inAvivuses), Frau von Genlis, Buffon, Gibbon, Necker standen in ununterbrochenem engen Ver¬ kehr mit ihrer Mutter; am höchsten aber in den Familien-Erinnerungen stand I. I. Rousseau, der Logiker zärtlich empfindender Seelen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/450>, abgerufen am 21.06.2024.