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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Studien zur Geschichte der französischen Romantik.
Lamartine.



Nach langem Schweigen ist Lamartine wieder öffentlich aufgetreten, und zwar,
wie seine ganze Bildung es vermuthen ließ, mit einem Bonmot. Herr Thiers
ist mit dem vollsten Cynismus des gesunden Menschenverstandes gegen die Ro¬
mantik der Februarrevolution zu Felde gezogen, und Herr von Lamartine hat sich
in jener Attitüde, die er in den Februartagen einstudirt, erhoben, und die Worte
gesprochen: "Die schönen Geister machen Epigramme, die Völker machen Revolu¬
tionen!" Dieses Bonmot ist von der Linken mit großer Begeisterung beklatscht wor¬
den, sie hat sich erhoben, und der Republik ein dreimaliges Lebehoch gebracht,
und Herr von Girardin, dessen biegsamer Geist sich jetzt in socialistischen Enthu¬
siasmus bewegt, erklärt den alten Liebling seiner Delphine auf's Neue für den
größten Mann Frankreichs.

Wir, die wir dieses Urtheil nicht unterschreiben, finden in dem berühmten
Dichter wenigstens eines der sprechendsten Bilder für den Charakter des moder¬
nen Frankreich: eine seltene Harmonie in seinen staatsmännischen, seinen poetischen
und socialen Werken; freilich nicht die Einheit eines gediegenen sittlichen Charak¬
ters, sondern eines routinirten Schauspielers.

Wir lassen unserm Endurtheil eine objective Geschichte seiner Empfindungen,
seiner Thaten und Schicksale vorausgehen, eine Geschichte, in der wir um so besser
zu Hanse sind, da selten ein Mann sein eigenes Leben in so viel Selbstbespiegelun-
geu angeschaut hat. Wir beginnen mit seiner Jugend.

Alfons de Lamartine wurde auf dem Schlosse Milky, in der Grafschaft
Burgund am 21. October 1790 geboren. Sein Großvater war ein alter Edel¬
mann, der lange Zeit in den Armeen Ludwig's XIV. und XV. gedient, das
Ludwigkreuz in der Schlacht bei Fontenoy erhalten hatte, und dann mit dem
Grade eines Kapitäns auf seine Güter zurückgekehrt war. Die Gewohnheiten des
Hoflebens, ein nicht unbedeutendes Erbe und eine reiche Heirath ließen ihn als
großen Herrn in der Provinz leben. Bon seinen 6 Kindern sollte nach den Ideen
der Zeit der älteste Sohn das ganze Erbtheil der Familie ungeschmälert erhalten,


Grenzboten. l. i?"^. 56
Studien zur Geschichte der französischen Romantik.
Lamartine.



Nach langem Schweigen ist Lamartine wieder öffentlich aufgetreten, und zwar,
wie seine ganze Bildung es vermuthen ließ, mit einem Bonmot. Herr Thiers
ist mit dem vollsten Cynismus des gesunden Menschenverstandes gegen die Ro¬
mantik der Februarrevolution zu Felde gezogen, und Herr von Lamartine hat sich
in jener Attitüde, die er in den Februartagen einstudirt, erhoben, und die Worte
gesprochen: „Die schönen Geister machen Epigramme, die Völker machen Revolu¬
tionen!" Dieses Bonmot ist von der Linken mit großer Begeisterung beklatscht wor¬
den, sie hat sich erhoben, und der Republik ein dreimaliges Lebehoch gebracht,
und Herr von Girardin, dessen biegsamer Geist sich jetzt in socialistischen Enthu¬
siasmus bewegt, erklärt den alten Liebling seiner Delphine auf's Neue für den
größten Mann Frankreichs.

Wir, die wir dieses Urtheil nicht unterschreiben, finden in dem berühmten
Dichter wenigstens eines der sprechendsten Bilder für den Charakter des moder¬
nen Frankreich: eine seltene Harmonie in seinen staatsmännischen, seinen poetischen
und socialen Werken; freilich nicht die Einheit eines gediegenen sittlichen Charak¬
ters, sondern eines routinirten Schauspielers.

Wir lassen unserm Endurtheil eine objective Geschichte seiner Empfindungen,
seiner Thaten und Schicksale vorausgehen, eine Geschichte, in der wir um so besser
zu Hanse sind, da selten ein Mann sein eigenes Leben in so viel Selbstbespiegelun-
geu angeschaut hat. Wir beginnen mit seiner Jugend.

Alfons de Lamartine wurde auf dem Schlosse Milky, in der Grafschaft
Burgund am 21. October 1790 geboren. Sein Großvater war ein alter Edel¬
mann, der lange Zeit in den Armeen Ludwig's XIV. und XV. gedient, das
Ludwigkreuz in der Schlacht bei Fontenoy erhalten hatte, und dann mit dem
Grade eines Kapitäns auf seine Güter zurückgekehrt war. Die Gewohnheiten des
Hoflebens, ein nicht unbedeutendes Erbe und eine reiche Heirath ließen ihn als
großen Herrn in der Provinz leben. Bon seinen 6 Kindern sollte nach den Ideen
der Zeit der älteste Sohn das ganze Erbtheil der Familie ungeschmälert erhalten,


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[0449] Studien zur Geschichte der französischen Romantik. Lamartine. Nach langem Schweigen ist Lamartine wieder öffentlich aufgetreten, und zwar, wie seine ganze Bildung es vermuthen ließ, mit einem Bonmot. Herr Thiers ist mit dem vollsten Cynismus des gesunden Menschenverstandes gegen die Ro¬ mantik der Februarrevolution zu Felde gezogen, und Herr von Lamartine hat sich in jener Attitüde, die er in den Februartagen einstudirt, erhoben, und die Worte gesprochen: „Die schönen Geister machen Epigramme, die Völker machen Revolu¬ tionen!" Dieses Bonmot ist von der Linken mit großer Begeisterung beklatscht wor¬ den, sie hat sich erhoben, und der Republik ein dreimaliges Lebehoch gebracht, und Herr von Girardin, dessen biegsamer Geist sich jetzt in socialistischen Enthu¬ siasmus bewegt, erklärt den alten Liebling seiner Delphine auf's Neue für den größten Mann Frankreichs. Wir, die wir dieses Urtheil nicht unterschreiben, finden in dem berühmten Dichter wenigstens eines der sprechendsten Bilder für den Charakter des moder¬ nen Frankreich: eine seltene Harmonie in seinen staatsmännischen, seinen poetischen und socialen Werken; freilich nicht die Einheit eines gediegenen sittlichen Charak¬ ters, sondern eines routinirten Schauspielers. Wir lassen unserm Endurtheil eine objective Geschichte seiner Empfindungen, seiner Thaten und Schicksale vorausgehen, eine Geschichte, in der wir um so besser zu Hanse sind, da selten ein Mann sein eigenes Leben in so viel Selbstbespiegelun- geu angeschaut hat. Wir beginnen mit seiner Jugend. Alfons de Lamartine wurde auf dem Schlosse Milky, in der Grafschaft Burgund am 21. October 1790 geboren. Sein Großvater war ein alter Edel¬ mann, der lange Zeit in den Armeen Ludwig's XIV. und XV. gedient, das Ludwigkreuz in der Schlacht bei Fontenoy erhalten hatte, und dann mit dem Grade eines Kapitäns auf seine Güter zurückgekehrt war. Die Gewohnheiten des Hoflebens, ein nicht unbedeutendes Erbe und eine reiche Heirath ließen ihn als großen Herrn in der Provinz leben. Bon seinen 6 Kindern sollte nach den Ideen der Zeit der älteste Sohn das ganze Erbtheil der Familie ungeschmälert erhalten, Grenzboten. l. i?"^. 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/449>, abgerufen am 21.06.2024.