Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

jagt. Er vertheidigt die Minciogrenze; Radetzki vernachlässigt die strategischen
Punkte, und geht bis zum Tessin. Er schließt das Dreikönigsbündniß, und die
beiden betheiligten Könige heben durch ihren Vorbehalt das Bündniß auf.
Und so in allen Dingen. -- Es ist ein schlimmes Zeichen für einen praktischen
Staatsmann, wenn er überall den rechten Augenblick verfehlt.

Aber das Uebel liegt noch tiefer. Ach habe die Ueberzeugung gewonnen, daß
Nadowitz weder vor, noch während, noch nach der Nationalversammlung einen
festen bestimmten Plan verfolgt hat; daß ihm immer nur etwas "vorgeschwebt,"
und daß seine ganze Thätigkeit darin bestanden hat, diesem Etwas geistreiche und
pikante Gesichtspunkte abzugewinnen.

Radowitz gehört zu den Naturen, die in dem modernen Preußen nicht selten
sind, die ihre Waffen so lange schleifen, bis nichts davon übrig bleibt. Eigentlich
war der leichtfüßige Haugwitz, obgleich weit entfernt von dem doctrinären Nimbus
unserer heutigen romantischen Staatsweisheit, ein passendes Beispiel dieser Klasse.
Der glänzendste Kopf unter ihnen ist Leopold Ranke. In seinem bunten histori¬
schen Bildersaal herrscht eine wahrhaft beleidigende Unparteilichkeit; der Geschicht¬
schreiber steht überall außerhalb der Begebenheiten, besieht sie von rechts und links,
von vorn und hinten mit seinem scharfen Augenglas, mit seinem feinen diploma¬
tischen Lächeln, und steht Dinge, auf die kein anderer Mensch kommen würde.
Nur -- er steht den Wald vor Bäumen nicht. Der gesunde Menschenverstand,
der in jedem Augenblick zwischen Recht und Unrecht unterscheidet, wenn er auch
nicht gleich sein "Celarent" oder "Barbara" als Beleg zur Hand hat, ist ihm zu
gemein. Außerdem hört noch in einem Punkt seine Unparteilichkeit auf: wenn er
einer Natur begegnet, die gerade aus und grob ist. Das verletzt die ästhetische
Feinheit seiner Nerven. -- Der Geschichtschreiber, namentlich in Zeiten, die kein
gegenwärtiges Interesse haben, kann trotzdem Großes leisten, wie denn Ranke'S
Schriften eine reiche Fundgrube der vortrefflichsten Wahrheiten bieten. Mit dem
Geschäftsmann ist es schon schlimmer. Ein preußischer Diplomat, in dem ich viel
von dem Ranke'schen Geist finde, ist Herr v. Usedom? In seinen "politischen
Briefen" mit dem Motto: iwljuo pouckero! läßt er aller Welt Gerechtigkeit wie¬
derfahren, Metternich und Jacoby, Louis Philipp und seinen Feinden. Es ist
viel Schönes und Richtiges darin gesagt, und doch wird einem unheimlich bei
dieser Leidenschaftslosigkeit. Die preußischen Diplomaten sind durch ihre Stellung
in diese Lage gebracht. Als Bevollmächtigte einer europäischen Großmacht, die
doch keine ist, haben sie die Aufgabe, in jede Frage mit einzureden, soviel kluge
Worte als möglich, und doch so wenig bezeichnend als möglich zu sagen. Sie
sind daher überall klüger und tieser als alle andern, sie stehn über den Parteien,
d. h. sie haben keinen Einfluß auf sie; sie treiben ein Nebengeschäft, z. B.
den Generalbaß, mit Leidenschaft, und studiren im Salon die Physiognomie
der wirklichen Staatsmänner. Im Gespräch, wenn zwei Gegner mit hefti-


jagt. Er vertheidigt die Minciogrenze; Radetzki vernachlässigt die strategischen
Punkte, und geht bis zum Tessin. Er schließt das Dreikönigsbündniß, und die
beiden betheiligten Könige heben durch ihren Vorbehalt das Bündniß auf.
Und so in allen Dingen. — Es ist ein schlimmes Zeichen für einen praktischen
Staatsmann, wenn er überall den rechten Augenblick verfehlt.

Aber das Uebel liegt noch tiefer. Ach habe die Ueberzeugung gewonnen, daß
Nadowitz weder vor, noch während, noch nach der Nationalversammlung einen
festen bestimmten Plan verfolgt hat; daß ihm immer nur etwas „vorgeschwebt,"
und daß seine ganze Thätigkeit darin bestanden hat, diesem Etwas geistreiche und
pikante Gesichtspunkte abzugewinnen.

Radowitz gehört zu den Naturen, die in dem modernen Preußen nicht selten
sind, die ihre Waffen so lange schleifen, bis nichts davon übrig bleibt. Eigentlich
war der leichtfüßige Haugwitz, obgleich weit entfernt von dem doctrinären Nimbus
unserer heutigen romantischen Staatsweisheit, ein passendes Beispiel dieser Klasse.
Der glänzendste Kopf unter ihnen ist Leopold Ranke. In seinem bunten histori¬
schen Bildersaal herrscht eine wahrhaft beleidigende Unparteilichkeit; der Geschicht¬
schreiber steht überall außerhalb der Begebenheiten, besieht sie von rechts und links,
von vorn und hinten mit seinem scharfen Augenglas, mit seinem feinen diploma¬
tischen Lächeln, und steht Dinge, auf die kein anderer Mensch kommen würde.
Nur — er steht den Wald vor Bäumen nicht. Der gesunde Menschenverstand,
der in jedem Augenblick zwischen Recht und Unrecht unterscheidet, wenn er auch
nicht gleich sein „Celarent" oder „Barbara" als Beleg zur Hand hat, ist ihm zu
gemein. Außerdem hört noch in einem Punkt seine Unparteilichkeit auf: wenn er
einer Natur begegnet, die gerade aus und grob ist. Das verletzt die ästhetische
Feinheit seiner Nerven. — Der Geschichtschreiber, namentlich in Zeiten, die kein
gegenwärtiges Interesse haben, kann trotzdem Großes leisten, wie denn Ranke'S
Schriften eine reiche Fundgrube der vortrefflichsten Wahrheiten bieten. Mit dem
Geschäftsmann ist es schon schlimmer. Ein preußischer Diplomat, in dem ich viel
von dem Ranke'schen Geist finde, ist Herr v. Usedom? In seinen „politischen
Briefen" mit dem Motto: iwljuo pouckero! läßt er aller Welt Gerechtigkeit wie¬
derfahren, Metternich und Jacoby, Louis Philipp und seinen Feinden. Es ist
viel Schönes und Richtiges darin gesagt, und doch wird einem unheimlich bei
dieser Leidenschaftslosigkeit. Die preußischen Diplomaten sind durch ihre Stellung
in diese Lage gebracht. Als Bevollmächtigte einer europäischen Großmacht, die
doch keine ist, haben sie die Aufgabe, in jede Frage mit einzureden, soviel kluge
Worte als möglich, und doch so wenig bezeichnend als möglich zu sagen. Sie
sind daher überall klüger und tieser als alle andern, sie stehn über den Parteien,
d. h. sie haben keinen Einfluß auf sie; sie treiben ein Nebengeschäft, z. B.
den Generalbaß, mit Leidenschaft, und studiren im Salon die Physiognomie
der wirklichen Staatsmänner. Im Gespräch, wenn zwei Gegner mit hefti-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0414" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93237"/>
            <p xml:id="ID_1425" prev="#ID_1424"> jagt. Er vertheidigt die Minciogrenze; Radetzki vernachlässigt die strategischen<lb/>
Punkte, und geht bis zum Tessin.  Er schließt das Dreikönigsbündniß, und die<lb/>
beiden betheiligten Könige heben durch ihren Vorbehalt das Bündniß auf.<lb/>
Und so in allen Dingen. &#x2014; Es ist ein schlimmes Zeichen für einen praktischen<lb/>
Staatsmann, wenn er überall den rechten Augenblick verfehlt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1426"> Aber das Uebel liegt noch tiefer. Ach habe die Ueberzeugung gewonnen, daß<lb/>
Nadowitz weder vor, noch während, noch nach der Nationalversammlung einen<lb/>
festen bestimmten Plan verfolgt hat; daß ihm immer nur etwas &#x201E;vorgeschwebt,"<lb/>
und daß seine ganze Thätigkeit darin bestanden hat, diesem Etwas geistreiche und<lb/>
pikante Gesichtspunkte abzugewinnen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1427" next="#ID_1428"> Radowitz gehört zu den Naturen, die in dem modernen Preußen nicht selten<lb/>
sind, die ihre Waffen so lange schleifen, bis nichts davon übrig bleibt. Eigentlich<lb/>
war der leichtfüßige Haugwitz, obgleich weit entfernt von dem doctrinären Nimbus<lb/>
unserer heutigen romantischen Staatsweisheit, ein passendes Beispiel dieser Klasse.<lb/>
Der glänzendste Kopf unter ihnen ist Leopold Ranke. In seinem bunten histori¬<lb/>
schen Bildersaal herrscht eine wahrhaft beleidigende Unparteilichkeit; der Geschicht¬<lb/>
schreiber steht überall außerhalb der Begebenheiten, besieht sie von rechts und links,<lb/>
von vorn und hinten mit seinem scharfen Augenglas, mit seinem feinen diploma¬<lb/>
tischen Lächeln, und steht Dinge, auf die kein anderer Mensch kommen würde.<lb/>
Nur &#x2014; er steht den Wald vor Bäumen nicht. Der gesunde Menschenverstand,<lb/>
der in jedem Augenblick zwischen Recht und Unrecht unterscheidet, wenn er auch<lb/>
nicht gleich sein &#x201E;Celarent" oder &#x201E;Barbara" als Beleg zur Hand hat, ist ihm zu<lb/>
gemein. Außerdem hört noch in einem Punkt seine Unparteilichkeit auf: wenn er<lb/>
einer Natur begegnet, die gerade aus und grob ist. Das verletzt die ästhetische<lb/>
Feinheit seiner Nerven. &#x2014; Der Geschichtschreiber, namentlich in Zeiten, die kein<lb/>
gegenwärtiges Interesse haben, kann trotzdem Großes leisten, wie denn Ranke'S<lb/>
Schriften eine reiche Fundgrube der vortrefflichsten Wahrheiten bieten. Mit dem<lb/>
Geschäftsmann ist es schon schlimmer. Ein preußischer Diplomat, in dem ich viel<lb/>
von dem Ranke'schen Geist finde, ist Herr v. Usedom? In seinen &#x201E;politischen<lb/>
Briefen" mit dem Motto: iwljuo pouckero! läßt er aller Welt Gerechtigkeit wie¬<lb/>
derfahren, Metternich und Jacoby, Louis Philipp und seinen Feinden. Es ist<lb/>
viel Schönes und Richtiges darin gesagt, und doch wird einem unheimlich bei<lb/>
dieser Leidenschaftslosigkeit. Die preußischen Diplomaten sind durch ihre Stellung<lb/>
in diese Lage gebracht. Als Bevollmächtigte einer europäischen Großmacht, die<lb/>
doch keine ist, haben sie die Aufgabe, in jede Frage mit einzureden, soviel kluge<lb/>
Worte als möglich, und doch so wenig bezeichnend als möglich zu sagen. Sie<lb/>
sind daher überall klüger und tieser als alle andern, sie stehn über den Parteien,<lb/>
d. h. sie haben keinen Einfluß auf sie; sie treiben ein Nebengeschäft, z. B.<lb/>
den Generalbaß, mit Leidenschaft, und studiren im Salon die Physiognomie<lb/>
der wirklichen Staatsmänner.  Im Gespräch, wenn zwei Gegner mit hefti-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0414] jagt. Er vertheidigt die Minciogrenze; Radetzki vernachlässigt die strategischen Punkte, und geht bis zum Tessin. Er schließt das Dreikönigsbündniß, und die beiden betheiligten Könige heben durch ihren Vorbehalt das Bündniß auf. Und so in allen Dingen. — Es ist ein schlimmes Zeichen für einen praktischen Staatsmann, wenn er überall den rechten Augenblick verfehlt. Aber das Uebel liegt noch tiefer. Ach habe die Ueberzeugung gewonnen, daß Nadowitz weder vor, noch während, noch nach der Nationalversammlung einen festen bestimmten Plan verfolgt hat; daß ihm immer nur etwas „vorgeschwebt," und daß seine ganze Thätigkeit darin bestanden hat, diesem Etwas geistreiche und pikante Gesichtspunkte abzugewinnen. Radowitz gehört zu den Naturen, die in dem modernen Preußen nicht selten sind, die ihre Waffen so lange schleifen, bis nichts davon übrig bleibt. Eigentlich war der leichtfüßige Haugwitz, obgleich weit entfernt von dem doctrinären Nimbus unserer heutigen romantischen Staatsweisheit, ein passendes Beispiel dieser Klasse. Der glänzendste Kopf unter ihnen ist Leopold Ranke. In seinem bunten histori¬ schen Bildersaal herrscht eine wahrhaft beleidigende Unparteilichkeit; der Geschicht¬ schreiber steht überall außerhalb der Begebenheiten, besieht sie von rechts und links, von vorn und hinten mit seinem scharfen Augenglas, mit seinem feinen diploma¬ tischen Lächeln, und steht Dinge, auf die kein anderer Mensch kommen würde. Nur — er steht den Wald vor Bäumen nicht. Der gesunde Menschenverstand, der in jedem Augenblick zwischen Recht und Unrecht unterscheidet, wenn er auch nicht gleich sein „Celarent" oder „Barbara" als Beleg zur Hand hat, ist ihm zu gemein. Außerdem hört noch in einem Punkt seine Unparteilichkeit auf: wenn er einer Natur begegnet, die gerade aus und grob ist. Das verletzt die ästhetische Feinheit seiner Nerven. — Der Geschichtschreiber, namentlich in Zeiten, die kein gegenwärtiges Interesse haben, kann trotzdem Großes leisten, wie denn Ranke'S Schriften eine reiche Fundgrube der vortrefflichsten Wahrheiten bieten. Mit dem Geschäftsmann ist es schon schlimmer. Ein preußischer Diplomat, in dem ich viel von dem Ranke'schen Geist finde, ist Herr v. Usedom? In seinen „politischen Briefen" mit dem Motto: iwljuo pouckero! läßt er aller Welt Gerechtigkeit wie¬ derfahren, Metternich und Jacoby, Louis Philipp und seinen Feinden. Es ist viel Schönes und Richtiges darin gesagt, und doch wird einem unheimlich bei dieser Leidenschaftslosigkeit. Die preußischen Diplomaten sind durch ihre Stellung in diese Lage gebracht. Als Bevollmächtigte einer europäischen Großmacht, die doch keine ist, haben sie die Aufgabe, in jede Frage mit einzureden, soviel kluge Worte als möglich, und doch so wenig bezeichnend als möglich zu sagen. Sie sind daher überall klüger und tieser als alle andern, sie stehn über den Parteien, d. h. sie haben keinen Einfluß auf sie; sie treiben ein Nebengeschäft, z. B. den Generalbaß, mit Leidenschaft, und studiren im Salon die Physiognomie der wirklichen Staatsmänner. Im Gespräch, wenn zwei Gegner mit hefti-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/414
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/414>, abgerufen am 21.06.2024.