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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Seine Ernennung für's Interim (11. November) -- dessen einzige Thätigkeit, so
viel mir bekannt ist, darin bestanden, die Mecklenburg-Schwerin'sche Angelegenheit
in seine Competenz zu ziehen, -- so wie neuerdings seine Wahl in's Erfurter
Volkshaus und seine Berufung zur Regierungscommissär wie zum Präsidenten des
Verwaltungsrathes sind noch Allen im Gedächtniß.

Da er nun in Erfurt Gelegenheit haben wird, seine bisher nnr fragmenta¬
risch zur Anschauung gekommene Politik im Zusammenhang zu entwickeln, so konnte
es angemessen erscheinen, mit seiner Charakteristik so lange zu warten. Wir glau¬
ben aber, sein Wesen bereits so vollständig zu übersehen, daß der Reichstag nicht
viel neues Licht darauf werfe" dürfte. --

Diese Behauptung klingt um so anmaßender, da man ziemlich von allen
Seiten und in allen Parteien darüber einig ist, in Radowitz einen der tiefsinnig¬
sten und gefährlichsten Politiker zu finden, dessen Maske undurchdringlich sei. Ich
las in einem Leipziger Blatt von einem jungen Demokraten, dessen rosenblut-
wangige Naivetät in unserer Zeit wirklich wohlthuend ist, offene Briefe an die
preußischen Reactiouärs, in denen z. B. Herr v. Gerlach im Vertrauen belehrt
wird, er sei eigentlich die Drahtpuppe, die der geheime Maschinist, der Obertenfel
Radowitz, nach Belieben hin- und herziehe; der Oberteufel, in dessen Netzen
Metternich, Schwarzenberg, der König von Preußen, die Konstitutionellen, ^ der
Papst und Pater Rothaan, Louis Napoleon und Lord Palmerston gefangen seien.

Eine allgemein verbreitete Ansicht muß immer einen gewissen Grund haben.
Allein hier liegt der Grund zu offen auf der Hand. Einmal hat Radowitz ein
Gesteht, welches man nicht wieder vergißt, wenn man es einmal gesehen hat.
Sämmtliche Journalisten des heiligen römischen Reichs haben in den kühnsten
Bildern gewetteifert, dieser Physiognomie gerecht zu werden. Diese hohe Stirn,
dieses dunkle Ange, dieser finstre Blick, der doch anzuziehen versteht -- wir Deut¬
schen müßten keinen Lcivater gehabt haben, wenn wir dahinter nicht etwas recht
Mystisches suchen wollten. Sodann versteht Radowitz mehr als ein Anderer die
Kunst, durch kleine Freundlichkeiten zu bestechen. Man denke sich ein Männchen,
das im Allgemeinen die Potentaten und ihre Schergen sehr geringschätzt, aber im
Besonderen doch vielfach in Verlegenheit kommt, diese Überlegenheit über die be¬
stehende Ordnung der Dinge zu specificiren, man denke es sich, wie es z. B. in
der Paulskirche sein schüchternes miüäon-sttveli gehalten, und wie es nun plötzlich
den großen Radowitz langsam sich erheben, aus sich zu kommen sieht, einen war¬
men Händedruck fühlt, und die sanften Worte vernimmt: "Ganz aus meiner Seele
gesprochen!" -- was übrigens ganz richtig sein kann, denn bei der weitumfassen-
den Gesinnung unseres Helden wird es selten eine Ansicht geben, die nicht in ge¬
wissem Sinn aus seiner Seele gesprochen wäre. Es wäre nun schlimm, wenn
jenem jungfräulichen Redner nicht irgend eines der tausend politischen Blätter zu
Gebot stände, wo es in einer reserirenden Notiz die Bemerkung einführen könnte:


Seine Ernennung für's Interim (11. November) — dessen einzige Thätigkeit, so
viel mir bekannt ist, darin bestanden, die Mecklenburg-Schwerin'sche Angelegenheit
in seine Competenz zu ziehen, — so wie neuerdings seine Wahl in's Erfurter
Volkshaus und seine Berufung zur Regierungscommissär wie zum Präsidenten des
Verwaltungsrathes sind noch Allen im Gedächtniß.

Da er nun in Erfurt Gelegenheit haben wird, seine bisher nnr fragmenta¬
risch zur Anschauung gekommene Politik im Zusammenhang zu entwickeln, so konnte
es angemessen erscheinen, mit seiner Charakteristik so lange zu warten. Wir glau¬
ben aber, sein Wesen bereits so vollständig zu übersehen, daß der Reichstag nicht
viel neues Licht darauf werfe» dürfte. —

Diese Behauptung klingt um so anmaßender, da man ziemlich von allen
Seiten und in allen Parteien darüber einig ist, in Radowitz einen der tiefsinnig¬
sten und gefährlichsten Politiker zu finden, dessen Maske undurchdringlich sei. Ich
las in einem Leipziger Blatt von einem jungen Demokraten, dessen rosenblut-
wangige Naivetät in unserer Zeit wirklich wohlthuend ist, offene Briefe an die
preußischen Reactiouärs, in denen z. B. Herr v. Gerlach im Vertrauen belehrt
wird, er sei eigentlich die Drahtpuppe, die der geheime Maschinist, der Obertenfel
Radowitz, nach Belieben hin- und herziehe; der Oberteufel, in dessen Netzen
Metternich, Schwarzenberg, der König von Preußen, die Konstitutionellen, ^ der
Papst und Pater Rothaan, Louis Napoleon und Lord Palmerston gefangen seien.

Eine allgemein verbreitete Ansicht muß immer einen gewissen Grund haben.
Allein hier liegt der Grund zu offen auf der Hand. Einmal hat Radowitz ein
Gesteht, welches man nicht wieder vergißt, wenn man es einmal gesehen hat.
Sämmtliche Journalisten des heiligen römischen Reichs haben in den kühnsten
Bildern gewetteifert, dieser Physiognomie gerecht zu werden. Diese hohe Stirn,
dieses dunkle Ange, dieser finstre Blick, der doch anzuziehen versteht — wir Deut¬
schen müßten keinen Lcivater gehabt haben, wenn wir dahinter nicht etwas recht
Mystisches suchen wollten. Sodann versteht Radowitz mehr als ein Anderer die
Kunst, durch kleine Freundlichkeiten zu bestechen. Man denke sich ein Männchen,
das im Allgemeinen die Potentaten und ihre Schergen sehr geringschätzt, aber im
Besonderen doch vielfach in Verlegenheit kommt, diese Überlegenheit über die be¬
stehende Ordnung der Dinge zu specificiren, man denke es sich, wie es z. B. in
der Paulskirche sein schüchternes miüäon-sttveli gehalten, und wie es nun plötzlich
den großen Radowitz langsam sich erheben, aus sich zu kommen sieht, einen war¬
men Händedruck fühlt, und die sanften Worte vernimmt: „Ganz aus meiner Seele
gesprochen!" — was übrigens ganz richtig sein kann, denn bei der weitumfassen-
den Gesinnung unseres Helden wird es selten eine Ansicht geben, die nicht in ge¬
wissem Sinn aus seiner Seele gesprochen wäre. Es wäre nun schlimm, wenn
jenem jungfräulichen Redner nicht irgend eines der tausend politischen Blätter zu
Gebot stände, wo es in einer reserirenden Notiz die Bemerkung einführen könnte:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/412>, abgerufen am 21.06.2024.