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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Sprache, um getreu zu übersetzen, sollen nach den Erklärungen französischer Kri¬
tiker gewaltsam sein, ich traue mir kein competentes Urtheil darüber zu. -- Aber
über die Einleitung, mit der er diese Übersetzung begleitet (1835), und die den
sehr bezeichnenden Titel führt: Lss-u sur titel-tturv ^o^KUse et consiäerations
sur le ^crie clef Komme", ach temps et ach revvlutiolls, muß ich mir einige
Bemerkungen erlauben. Es ist in diesen literarhistorischen Notizen eine wunder¬
bare Confusion; bei der fortwährenden Eiuflechtuug persönlicher Erlebnisse und
anderweitiger Betrachtungen hört jeder Faden auf; als Beispiel für die Sprünge
in seiner Erzählung nur dieses. Er berichtet von der Hast eines jungen und
schönen Oberst Lovelace, und setzt dann hinzu: etre ^jeune et be-in commv
1e colonel I^ovelilcv, ^'in ete commo 1"i eulerme, und NUN kommt die Geschichte
seiner Verhaftung. -- Er gibt eine Menge von Auszügen, aber in der Regel
Citate, die nichts sagen. -- Einmal hat er eine Reihe von Phrasen aus Racine
angeführt, von denen die eine immer hohler und trivialer ist, als die andere,
und bricht baun aus: sollte es wirklich Hottentotten, Hunnen geben, die so einen
Dichter nicht anbeten! -- Die Unsicherheit seines Urtheils ist unglaublich. --
Einen großen Raum in seinein Werke nehmen die Angriffe gegen die Reforma¬
tion ein; es wird Luther unter andern ein Vorwurf daraus gemacht, daß er nicht
das Erhabene des Cölibats gefühlt, daß er sich den fleischlichen Neigungen durch
seine Ehe unterworfen habe. Die Reformation sei ans dein beleidigten Hochmuth
eiues Mönchs und der Habgier der Fürsten hervorgegangen. Für den protestan¬
tischen Priester seien die Gräber keine Religion, denn er glaube nicht an die Orte
der Buße, aus denen das Gebet eines Freundes eine leidende Seele befreien
könne! -- In Milton und Klopstock wird ein katholischer Geist gesucht; in der
gegenwärtigen Zeit hält er eine Wiedervereinigung der Kirchen für möglich. --
Ueber Shakespeare urtheilt er im Grunde wie Voltaire, wenn er sich auch höf¬
licher ausdrückt; er citirt Phrasen schlechter französischer Dichter im übertrieben¬
sten Lohensteinschen Geschmack, und neunt sie Shakespearisch. Er stellt ihn tief
uuter Racine: seinem Styl fehle die Würde wie seinem Leben; er wisse zu lieben,
aber er glaube an die Liebe so wenig wie an irgend etwas anderes; ein Atheist,
schlafe er diesen Schlaf ohne Erwachen, den man Tod nenne! -- Sehr schlecht
wird auch Walter Scott behandelt; Chateaubriand sagt sehr naiv, er habe sich
selber mit so viel Ruinen zu thun gemacht, daß sie ihm bei einem Andern
widerwärtig seien. So verwirft er denn auch den romantische" Nachwuchs seiner
eigenen Richtung, und hat darin unsern ganzen Beifall: "Diese Liebe des Hä߬
lichen, die uns ergriffen hat, dieser Abscheu vor dein Ideal, diese Leidenschaft für
Krüppel u. f. w. ist eine Depravation des Geists, und keineswegs aus jener
Natur abzuleiten, von der man so viel redet. Vor und nach der Civilisation,
wenn man noch nicht oder nicht mehr Geschmack an geistigen Genüssen hat, sucht
man grob sinnliche Eindrücke; mit Gladiatoren und Marionetten sangen die Vol-


Sprache, um getreu zu übersetzen, sollen nach den Erklärungen französischer Kri¬
tiker gewaltsam sein, ich traue mir kein competentes Urtheil darüber zu. — Aber
über die Einleitung, mit der er diese Übersetzung begleitet (1835), und die den
sehr bezeichnenden Titel führt: Lss-u sur titel-tturv ^o^KUse et consiäerations
sur le ^crie clef Komme«, ach temps et ach revvlutiolls, muß ich mir einige
Bemerkungen erlauben. Es ist in diesen literarhistorischen Notizen eine wunder¬
bare Confusion; bei der fortwährenden Eiuflechtuug persönlicher Erlebnisse und
anderweitiger Betrachtungen hört jeder Faden auf; als Beispiel für die Sprünge
in seiner Erzählung nur dieses. Er berichtet von der Hast eines jungen und
schönen Oberst Lovelace, und setzt dann hinzu: etre ^jeune et be-in commv
1e colonel I^ovelilcv, ^'in ete commo 1»i eulerme, und NUN kommt die Geschichte
seiner Verhaftung. — Er gibt eine Menge von Auszügen, aber in der Regel
Citate, die nichts sagen. — Einmal hat er eine Reihe von Phrasen aus Racine
angeführt, von denen die eine immer hohler und trivialer ist, als die andere,
und bricht baun aus: sollte es wirklich Hottentotten, Hunnen geben, die so einen
Dichter nicht anbeten! — Die Unsicherheit seines Urtheils ist unglaublich. —
Einen großen Raum in seinein Werke nehmen die Angriffe gegen die Reforma¬
tion ein; es wird Luther unter andern ein Vorwurf daraus gemacht, daß er nicht
das Erhabene des Cölibats gefühlt, daß er sich den fleischlichen Neigungen durch
seine Ehe unterworfen habe. Die Reformation sei ans dein beleidigten Hochmuth
eiues Mönchs und der Habgier der Fürsten hervorgegangen. Für den protestan¬
tischen Priester seien die Gräber keine Religion, denn er glaube nicht an die Orte
der Buße, aus denen das Gebet eines Freundes eine leidende Seele befreien
könne! — In Milton und Klopstock wird ein katholischer Geist gesucht; in der
gegenwärtigen Zeit hält er eine Wiedervereinigung der Kirchen für möglich. —
Ueber Shakespeare urtheilt er im Grunde wie Voltaire, wenn er sich auch höf¬
licher ausdrückt; er citirt Phrasen schlechter französischer Dichter im übertrieben¬
sten Lohensteinschen Geschmack, und neunt sie Shakespearisch. Er stellt ihn tief
uuter Racine: seinem Styl fehle die Würde wie seinem Leben; er wisse zu lieben,
aber er glaube an die Liebe so wenig wie an irgend etwas anderes; ein Atheist,
schlafe er diesen Schlaf ohne Erwachen, den man Tod nenne! — Sehr schlecht
wird auch Walter Scott behandelt; Chateaubriand sagt sehr naiv, er habe sich
selber mit so viel Ruinen zu thun gemacht, daß sie ihm bei einem Andern
widerwärtig seien. So verwirft er denn auch den romantische» Nachwuchs seiner
eigenen Richtung, und hat darin unsern ganzen Beifall: „Diese Liebe des Hä߬
lichen, die uns ergriffen hat, dieser Abscheu vor dein Ideal, diese Leidenschaft für
Krüppel u. f. w. ist eine Depravation des Geists, und keineswegs aus jener
Natur abzuleiten, von der man so viel redet. Vor und nach der Civilisation,
wenn man noch nicht oder nicht mehr Geschmack an geistigen Genüssen hat, sucht
man grob sinnliche Eindrücke; mit Gladiatoren und Marionetten sangen die Vol-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/389>, abgerufen am 27.06.2024.