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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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namentlich bezeichnet werden, und nachdem diese politische Satyre durch sechs
Gesänge ausgesponnen, wieder die Urwälder, wieder Satan, wieder die Jungfrau
Maria; wunderbare Irrfahrten, ebenso lügenhaft, aber lange nicht so anschaulich
als bei Cooper; Foltern und andere Greuelthaten; raffinirte Gefühlscouflikte in
den indianischen Damen; Kampf zwischen Liebe und Patriotismus; Ermordung
aller Weißen; Schändung aller Weiber; gespenstische Geburten, Wahnsinn, Selbst¬
morde u. s. w. -- Das Alles ist hinreichend, die Eingaugsstrophe zu rechtferti¬
gen, in welcher der Dichter erklärt: ich will Weisen der Einsamkeit singen, solche
wie sie noch kein sterbliches Ohr vernommen! -- Zur Charakteristik der Sprache
ein Beispiel: Die Indianer, um die Melancholie und die Schönheit Celuta's zu
schildern, pflegten zu sagen, sie habe den Blick der Nacht und das Lächeln der
Morgenröthe.

Das zweite prosaische Epos, die Märtyrer oder der Triumph der christ¬
lichen Religion, ist in demselben Geschmack. Ein kurzer Aufenthalt in Rom
(l803) als GesandschaftSsecretär gab Chateaubriand die erste Conception zu die¬
sem Gedicht, seine Reise nach dem Orient ergänzte die Lokalfarben, und so erschien
es erst 1807. Es spielt in den Zeiten Diocletians. Die Copirung Miltons ist
hier bis zum Lächerlichen getrieben, sogar die Titel, mit denen Satan seine
Unterthanen anredet: livres u. s. w., sind beibehalten. Die allegorischen Figuren
der Sünde, des Todes u. s. w. finden sich in derselben Localität wieder vor.
Satan spielt eine große Rolle, und zwar ist er hier noch viel sentimentaler ge¬
halten, als in Milton, er vergießt alle Augenblicke Thränen, empfindet Mitleid
und Gewissensbisse u. s. w. In der Schilderung der höllischen Qualen wetteifert
der Dichter mit Dante. Da mancher Leser neugierig sein wird, wie der katholi¬
sche Himmel aussieht, will ich die Beschreibung desselben einschalten.

Im Centrum der erschaffenen Welten, mitten unter zahllosen Gestirnen, die
ihr als Wälle, Vorhalle und Zugänge dienen, schwimmt die unermeßliche Stadt
Gottes, deren Wunder die Zunge eiues Sterblichen uicht aufzuzählen vermag.
Der Ewige legte selber die zwölf Grundsteine, und umgab sie mit jener Mauer
von Jaspis, welche der vielbeglückte Schüler von einem Engel mit goldenem Zoll¬
stab messen sah. Nicht vom Weiten dürfen die Bauwerke der Erde sich mit dieser
heiligen Stadt vergleichen! Der Reichthum des Stoffes wetteifert mit der Voll¬
endung der Formen. Gallerien von Saphir und Diamant, Triumphbogen von
Sternen, Säulenhallen von Sonne" (!!), die sich endlos im Firmament verlieren,
wie die Säulen von Palmyra im Sand der Wüste. Diese Architektur ist leben¬
dig. Nichts ist Malerei in den Wohnungen des Geistes, Nichts todt in den Or¬
ten des ewigen Lebens. Die Worte von Staub, welche die Muse anwenden
muß, siud falsch, sie bekleiden mit einem Leib, was nur wie der göttliche Traum
eines glücklichen Schlummers besteht. -- Christliche Gärten breiten sich in das
strahlende Jerusalem aus. Ein Fluß entspringt über dem Thron des Allmächti-


namentlich bezeichnet werden, und nachdem diese politische Satyre durch sechs
Gesänge ausgesponnen, wieder die Urwälder, wieder Satan, wieder die Jungfrau
Maria; wunderbare Irrfahrten, ebenso lügenhaft, aber lange nicht so anschaulich
als bei Cooper; Foltern und andere Greuelthaten; raffinirte Gefühlscouflikte in
den indianischen Damen; Kampf zwischen Liebe und Patriotismus; Ermordung
aller Weißen; Schändung aller Weiber; gespenstische Geburten, Wahnsinn, Selbst¬
morde u. s. w. — Das Alles ist hinreichend, die Eingaugsstrophe zu rechtferti¬
gen, in welcher der Dichter erklärt: ich will Weisen der Einsamkeit singen, solche
wie sie noch kein sterbliches Ohr vernommen! — Zur Charakteristik der Sprache
ein Beispiel: Die Indianer, um die Melancholie und die Schönheit Celuta's zu
schildern, pflegten zu sagen, sie habe den Blick der Nacht und das Lächeln der
Morgenröthe.

Das zweite prosaische Epos, die Märtyrer oder der Triumph der christ¬
lichen Religion, ist in demselben Geschmack. Ein kurzer Aufenthalt in Rom
(l803) als GesandschaftSsecretär gab Chateaubriand die erste Conception zu die¬
sem Gedicht, seine Reise nach dem Orient ergänzte die Lokalfarben, und so erschien
es erst 1807. Es spielt in den Zeiten Diocletians. Die Copirung Miltons ist
hier bis zum Lächerlichen getrieben, sogar die Titel, mit denen Satan seine
Unterthanen anredet: livres u. s. w., sind beibehalten. Die allegorischen Figuren
der Sünde, des Todes u. s. w. finden sich in derselben Localität wieder vor.
Satan spielt eine große Rolle, und zwar ist er hier noch viel sentimentaler ge¬
halten, als in Milton, er vergießt alle Augenblicke Thränen, empfindet Mitleid
und Gewissensbisse u. s. w. In der Schilderung der höllischen Qualen wetteifert
der Dichter mit Dante. Da mancher Leser neugierig sein wird, wie der katholi¬
sche Himmel aussieht, will ich die Beschreibung desselben einschalten.

Im Centrum der erschaffenen Welten, mitten unter zahllosen Gestirnen, die
ihr als Wälle, Vorhalle und Zugänge dienen, schwimmt die unermeßliche Stadt
Gottes, deren Wunder die Zunge eiues Sterblichen uicht aufzuzählen vermag.
Der Ewige legte selber die zwölf Grundsteine, und umgab sie mit jener Mauer
von Jaspis, welche der vielbeglückte Schüler von einem Engel mit goldenem Zoll¬
stab messen sah. Nicht vom Weiten dürfen die Bauwerke der Erde sich mit dieser
heiligen Stadt vergleichen! Der Reichthum des Stoffes wetteifert mit der Voll¬
endung der Formen. Gallerien von Saphir und Diamant, Triumphbogen von
Sternen, Säulenhallen von Sonne» (!!), die sich endlos im Firmament verlieren,
wie die Säulen von Palmyra im Sand der Wüste. Diese Architektur ist leben¬
dig. Nichts ist Malerei in den Wohnungen des Geistes, Nichts todt in den Or¬
ten des ewigen Lebens. Die Worte von Staub, welche die Muse anwenden
muß, siud falsch, sie bekleiden mit einem Leib, was nur wie der göttliche Traum
eines glücklichen Schlummers besteht. — Christliche Gärten breiten sich in das
strahlende Jerusalem aus. Ein Fluß entspringt über dem Thron des Allmächti-


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[0386] namentlich bezeichnet werden, und nachdem diese politische Satyre durch sechs Gesänge ausgesponnen, wieder die Urwälder, wieder Satan, wieder die Jungfrau Maria; wunderbare Irrfahrten, ebenso lügenhaft, aber lange nicht so anschaulich als bei Cooper; Foltern und andere Greuelthaten; raffinirte Gefühlscouflikte in den indianischen Damen; Kampf zwischen Liebe und Patriotismus; Ermordung aller Weißen; Schändung aller Weiber; gespenstische Geburten, Wahnsinn, Selbst¬ morde u. s. w. — Das Alles ist hinreichend, die Eingaugsstrophe zu rechtferti¬ gen, in welcher der Dichter erklärt: ich will Weisen der Einsamkeit singen, solche wie sie noch kein sterbliches Ohr vernommen! — Zur Charakteristik der Sprache ein Beispiel: Die Indianer, um die Melancholie und die Schönheit Celuta's zu schildern, pflegten zu sagen, sie habe den Blick der Nacht und das Lächeln der Morgenröthe. Das zweite prosaische Epos, die Märtyrer oder der Triumph der christ¬ lichen Religion, ist in demselben Geschmack. Ein kurzer Aufenthalt in Rom (l803) als GesandschaftSsecretär gab Chateaubriand die erste Conception zu die¬ sem Gedicht, seine Reise nach dem Orient ergänzte die Lokalfarben, und so erschien es erst 1807. Es spielt in den Zeiten Diocletians. Die Copirung Miltons ist hier bis zum Lächerlichen getrieben, sogar die Titel, mit denen Satan seine Unterthanen anredet: livres u. s. w., sind beibehalten. Die allegorischen Figuren der Sünde, des Todes u. s. w. finden sich in derselben Localität wieder vor. Satan spielt eine große Rolle, und zwar ist er hier noch viel sentimentaler ge¬ halten, als in Milton, er vergießt alle Augenblicke Thränen, empfindet Mitleid und Gewissensbisse u. s. w. In der Schilderung der höllischen Qualen wetteifert der Dichter mit Dante. Da mancher Leser neugierig sein wird, wie der katholi¬ sche Himmel aussieht, will ich die Beschreibung desselben einschalten. Im Centrum der erschaffenen Welten, mitten unter zahllosen Gestirnen, die ihr als Wälle, Vorhalle und Zugänge dienen, schwimmt die unermeßliche Stadt Gottes, deren Wunder die Zunge eiues Sterblichen uicht aufzuzählen vermag. Der Ewige legte selber die zwölf Grundsteine, und umgab sie mit jener Mauer von Jaspis, welche der vielbeglückte Schüler von einem Engel mit goldenem Zoll¬ stab messen sah. Nicht vom Weiten dürfen die Bauwerke der Erde sich mit dieser heiligen Stadt vergleichen! Der Reichthum des Stoffes wetteifert mit der Voll¬ endung der Formen. Gallerien von Saphir und Diamant, Triumphbogen von Sternen, Säulenhallen von Sonne» (!!), die sich endlos im Firmament verlieren, wie die Säulen von Palmyra im Sand der Wüste. Diese Architektur ist leben¬ dig. Nichts ist Malerei in den Wohnungen des Geistes, Nichts todt in den Or¬ ten des ewigen Lebens. Die Worte von Staub, welche die Muse anwenden muß, siud falsch, sie bekleiden mit einem Leib, was nur wie der göttliche Traum eines glücklichen Schlummers besteht. — Christliche Gärten breiten sich in das strahlende Jerusalem aus. Ein Fluß entspringt über dem Thron des Allmächti-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/386>, abgerufen am 27.06.2024.