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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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ruhender Häuptling geworden ist. Chateaubriand ist der Ueberzeugung, daß diese
Figur das Vorbild der byrvn'schen Poesie gewesen ist; er hat es Byron, den er
für den größten Dichter nach Milton erklärt, sehr übel genommen, daß er ihn,
den Chef der neuen französischen Schule, nie erwähnt -- Chateaubriand ver¬
gißt, daß Byron's Figuren das Schlechteste an seiner Poesie sind, und daß er seine
eigentliche Stärke, die lyrische Energie, wahrhaftig nicht dem französischen Vor¬
bild entnommen hat. -- Ren" ist der liommv incomnris der späteren Dichtung:
"Ich suche nur ein unbekanntes Gut, dessen Ahnung mich verfolgt ... Ist es
mein Fehler, wenn ich Grenzen finde, und wenn alles Begrenzte für mich ohne
Werth ist?" n. s. w. -- Er geht mit Selbstmordgedanken um, eine liebende
Schwester hält ihn zurück, aber leider findet es sich, daß diese Liebe über das
blos schwesterliche Verhältniß hinausgeht; sie geht zur Buße in ein Kloster, stirbt
daselbst, und der Schauder über den blos in der Einbildung vorhandenen Incest
treibt ihn unter die Wilden, wo er bis an seinen Tod seinem Gram nachhängt,
obgleich sein neuer Häuptling ihm sehr vernünftig sagt: "Du mußt dieser außer¬
gewöhnlichen Lebensweise, welche nur Sorgen nach sich zieht, entsagen; das Glück
weilt nur auf gemeinen Wegen."

Das prosaische Heldengedicht, die Natchez, bildet den Schluß zu den bei¬
den vorangegangenen Erzählungen. Es gehört dieses dreibändige Werk zu den
abgeschmacktesten Erzeugnissen der gesammten romantischen Literatur. Wenn Ca-
moens und Tasso die heidnische und christliche Mythologie ineinander verwirrten, so
war der melodische Zauber der Stanzen und die phantastische Gleichförmigkeit des
Costüms zwar nicht im Stande, uns diese Unnatur vergessen zu lassen, aber er
schmeichelte uns doch so, daß wir liebten, selbst wo wir zürnen mußten. Aber
diese Combinationen in Ossianischer Prosa, die christliche und heidnische Mythologie
noch durch die nordamerikanische bereichert, dazu moderne Uniformen, die Schilde¬
rung einer französischen Revue im pseudohomerischen Schwulst, und gleich darauf
eine Reise Satans: (!<zneoclimt 1" nrinco "los enters venit i"rriv6 nux vxttvmites
du morillv) suis le pole civile I'i n trop i 6 e Loolc mosur-t la ciicout'e-
renee (diese Gedankenverbindung ist charakteristisch), dann der liebe Gott als
Jupiter: I->'edel'iivl it'ilvnit joint; oncore mese d.'ins eos bitliinces "I'or !>>, llesti-
nve d<z ces Fuvl'riers; die Jungfrau Maria, die sich mit holder Schüchternheit
naht und Gott umarmt; in ihrem Gefolge die Schutzpatrone Frankreichs, die
heilige Geuoveva, Katherine, Louis; allegorische Figuren im Milton'scheu Ge¬
schmack, z. B. das Gerücht, das beiläufig unter dem Nordpol wohnt; dann gleich
darauf eine lange Reise des alten Chartas nach Paris, im Geschmack der I^celle"
I^eismies, eine Satyre nicht nur gegen die französische Gesellschaft im Allgemei¬
nen, sondern gegen bestimmte Persönlichkeiten am Hofe Ludwigs XV., die im Text
in dem bekannten schwülstigen Indianischen Jargon angedeutet, unten in der Note


Grenzboten. >. 1850. 48

ruhender Häuptling geworden ist. Chateaubriand ist der Ueberzeugung, daß diese
Figur das Vorbild der byrvn'schen Poesie gewesen ist; er hat es Byron, den er
für den größten Dichter nach Milton erklärt, sehr übel genommen, daß er ihn,
den Chef der neuen französischen Schule, nie erwähnt — Chateaubriand ver¬
gißt, daß Byron's Figuren das Schlechteste an seiner Poesie sind, und daß er seine
eigentliche Stärke, die lyrische Energie, wahrhaftig nicht dem französischen Vor¬
bild entnommen hat. — Ren« ist der liommv incomnris der späteren Dichtung:
„Ich suche nur ein unbekanntes Gut, dessen Ahnung mich verfolgt ... Ist es
mein Fehler, wenn ich Grenzen finde, und wenn alles Begrenzte für mich ohne
Werth ist?" n. s. w. — Er geht mit Selbstmordgedanken um, eine liebende
Schwester hält ihn zurück, aber leider findet es sich, daß diese Liebe über das
blos schwesterliche Verhältniß hinausgeht; sie geht zur Buße in ein Kloster, stirbt
daselbst, und der Schauder über den blos in der Einbildung vorhandenen Incest
treibt ihn unter die Wilden, wo er bis an seinen Tod seinem Gram nachhängt,
obgleich sein neuer Häuptling ihm sehr vernünftig sagt: „Du mußt dieser außer¬
gewöhnlichen Lebensweise, welche nur Sorgen nach sich zieht, entsagen; das Glück
weilt nur auf gemeinen Wegen."

Das prosaische Heldengedicht, die Natchez, bildet den Schluß zu den bei¬
den vorangegangenen Erzählungen. Es gehört dieses dreibändige Werk zu den
abgeschmacktesten Erzeugnissen der gesammten romantischen Literatur. Wenn Ca-
moens und Tasso die heidnische und christliche Mythologie ineinander verwirrten, so
war der melodische Zauber der Stanzen und die phantastische Gleichförmigkeit des
Costüms zwar nicht im Stande, uns diese Unnatur vergessen zu lassen, aber er
schmeichelte uns doch so, daß wir liebten, selbst wo wir zürnen mußten. Aber
diese Combinationen in Ossianischer Prosa, die christliche und heidnische Mythologie
noch durch die nordamerikanische bereichert, dazu moderne Uniformen, die Schilde¬
rung einer französischen Revue im pseudohomerischen Schwulst, und gleich darauf
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renee (diese Gedankenverbindung ist charakteristisch), dann der liebe Gott als
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naht und Gott umarmt; in ihrem Gefolge die Schutzpatrone Frankreichs, die
heilige Geuoveva, Katherine, Louis; allegorische Figuren im Milton'scheu Ge¬
schmack, z. B. das Gerücht, das beiläufig unter dem Nordpol wohnt; dann gleich
darauf eine lange Reise des alten Chartas nach Paris, im Geschmack der I^celle»
I^eismies, eine Satyre nicht nur gegen die französische Gesellschaft im Allgemei¬
nen, sondern gegen bestimmte Persönlichkeiten am Hofe Ludwigs XV., die im Text
in dem bekannten schwülstigen Indianischen Jargon angedeutet, unten in der Note


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/385>, abgerufen am 27.06.2024.