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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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päischer Gelehrter macht weite Reisen, um die Weisheit zu suchen; er sucht sie
vergebens bei den indische" Welsen, welche die Selbstsucht verblendet; er findet sie
endlich in der Hütte eines verachteten Paria, den das Unglück und die Einsam¬
keit gebildet. -- Wo findet man die Wahrheit? In der Natur. -- Wer ficht sie?
Ein reines Herz. -- Wem darf man sie mittheilen? Nur den Guten. --- Wenn
dem so ist, wie kauu die Menschheit fortschreiten? Durch das Unglück.---
Das alles ist sehr romantisch und sehr einseitig, aber man darf die sentimentalen
Ausdrücke nur in die entsprechenden des Verstandes übersetzen, um das Richtige
daraus herzuleiten.

In Atala ist die Galanterie, die Sentimentalität und das Rococowesen ganz
nach Bernardin's Muster, aber nie so kräftig, nie so graciös. Der junge Wilde
Chactas fällt fortwährend vor seiner Geliebten aus die Kniee; diese legt sich "tau-
send Fragen über den Zustand ihres Herzens" vor, und es erfolgen dann inbrün¬
stige Küsse -- um das recht zu würdigen, muß man Catlin's Bilder aus Nord¬
amerika zur Hilfe nehmen -- ; Atala ist die Tochter einer heimlichen Christin, sie
hat ihrer Mutter auf dem Todbctt geloben müssen, keusch zu bleiben, und um dem
Conflict dieses heiligen Gelübdes mit dem natürlichen Gefühl, das bei einer ein¬
samen Reise mit Chactas durch Prairien sehr lebhaft wird, zu entgehen, nimmt
sie Gift. Das Ideal des Romans, der Pater Aubry, der die Wilden nach Art
der Jesuiten in Paraguay civilisirt, tröstet ihre Todesstunde durch die Be¬
trachtung, daß sie nur wenig verliert, indem sie diese Welt verliert. Son¬
derbarer Weise hat der Grund, mit welchem er diesen Ausspruch motivirt,
und der so ziemlich der einzige freie Gedanke ist, den ich in diesem Wust süßlicher
Phraseologie entdecke, Anstoß erregt: "Die Schmerzen sind uicht ewig, früher oder
später müssen sie aufhören, weil das menschliche Herz endlich ist; das ist eine
von unseren Schwächen (c'e8t une av ne>8 Arimcles misvre8), daß wir nicht ein¬
mal im Stande sind, lange unglücklich zu sein . . . Wenn einige Jahre nach
seinem Tode ein Mensch an's Tageslicht zurückkehrte, so zweifle ich, ob er selbst
bei denen, die am meisten über seineu Tod geweint, einen freudigen Empfang
finden würde, so schnell bilden sich neue Verbindungen, so wenig Werth hat unser
Leben in dem Herzen unserer Freunde." -- Die Wunder, die sich in der Erthei-
lung der letzten Oelung ereignen, sind so wenig im Staude, uus einen befriedi¬
genden Eindruck zu hinterlassen, als der sentimentale Schluß, mit dem der Dichter
die Austreibung des ihm liebgewordenen Jndiancrstammes auf sein eigenes Schicksal
bezieht: Roms Ilourvux d-ins mon exit, ^ n"in p"int vmnortv Jos os as mes
r/eres.

Die zweite Novelle, Remy, schließt sich äußerlich an die vorhergehende an.
Rene ist ein junger träumerischer Franzose, der ans Ueberdruß an der Civilisation
sich in die amerikanischen Urwälder begibt, und dort Wilder wird, uuter der
Anleitung des alten Chactas, der seit dem Tode seiner geliebten Atala ein be-


päischer Gelehrter macht weite Reisen, um die Weisheit zu suchen; er sucht sie
vergebens bei den indische» Welsen, welche die Selbstsucht verblendet; er findet sie
endlich in der Hütte eines verachteten Paria, den das Unglück und die Einsam¬
keit gebildet. — Wo findet man die Wahrheit? In der Natur. — Wer ficht sie?
Ein reines Herz. — Wem darf man sie mittheilen? Nur den Guten. —- Wenn
dem so ist, wie kauu die Menschheit fortschreiten? Durch das Unglück.---
Das alles ist sehr romantisch und sehr einseitig, aber man darf die sentimentalen
Ausdrücke nur in die entsprechenden des Verstandes übersetzen, um das Richtige
daraus herzuleiten.

In Atala ist die Galanterie, die Sentimentalität und das Rococowesen ganz
nach Bernardin's Muster, aber nie so kräftig, nie so graciös. Der junge Wilde
Chactas fällt fortwährend vor seiner Geliebten aus die Kniee; diese legt sich „tau-
send Fragen über den Zustand ihres Herzens" vor, und es erfolgen dann inbrün¬
stige Küsse — um das recht zu würdigen, muß man Catlin's Bilder aus Nord¬
amerika zur Hilfe nehmen — ; Atala ist die Tochter einer heimlichen Christin, sie
hat ihrer Mutter auf dem Todbctt geloben müssen, keusch zu bleiben, und um dem
Conflict dieses heiligen Gelübdes mit dem natürlichen Gefühl, das bei einer ein¬
samen Reise mit Chactas durch Prairien sehr lebhaft wird, zu entgehen, nimmt
sie Gift. Das Ideal des Romans, der Pater Aubry, der die Wilden nach Art
der Jesuiten in Paraguay civilisirt, tröstet ihre Todesstunde durch die Be¬
trachtung, daß sie nur wenig verliert, indem sie diese Welt verliert. Son¬
derbarer Weise hat der Grund, mit welchem er diesen Ausspruch motivirt,
und der so ziemlich der einzige freie Gedanke ist, den ich in diesem Wust süßlicher
Phraseologie entdecke, Anstoß erregt: „Die Schmerzen sind uicht ewig, früher oder
später müssen sie aufhören, weil das menschliche Herz endlich ist; das ist eine
von unseren Schwächen (c'e8t une av ne>8 Arimcles misvre8), daß wir nicht ein¬
mal im Stande sind, lange unglücklich zu sein . . . Wenn einige Jahre nach
seinem Tode ein Mensch an's Tageslicht zurückkehrte, so zweifle ich, ob er selbst
bei denen, die am meisten über seineu Tod geweint, einen freudigen Empfang
finden würde, so schnell bilden sich neue Verbindungen, so wenig Werth hat unser
Leben in dem Herzen unserer Freunde." — Die Wunder, die sich in der Erthei-
lung der letzten Oelung ereignen, sind so wenig im Staude, uus einen befriedi¬
genden Eindruck zu hinterlassen, als der sentimentale Schluß, mit dem der Dichter
die Austreibung des ihm liebgewordenen Jndiancrstammes auf sein eigenes Schicksal
bezieht: Roms Ilourvux d-ins mon exit, ^ n"in p»int vmnortv Jos os as mes
r/eres.

Die zweite Novelle, Remy, schließt sich äußerlich an die vorhergehende an.
Rene ist ein junger träumerischer Franzose, der ans Ueberdruß an der Civilisation
sich in die amerikanischen Urwälder begibt, und dort Wilder wird, uuter der
Anleitung des alten Chactas, der seit dem Tode seiner geliebten Atala ein be-


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[0384] päischer Gelehrter macht weite Reisen, um die Weisheit zu suchen; er sucht sie vergebens bei den indische» Welsen, welche die Selbstsucht verblendet; er findet sie endlich in der Hütte eines verachteten Paria, den das Unglück und die Einsam¬ keit gebildet. — Wo findet man die Wahrheit? In der Natur. — Wer ficht sie? Ein reines Herz. — Wem darf man sie mittheilen? Nur den Guten. —- Wenn dem so ist, wie kauu die Menschheit fortschreiten? Durch das Unglück.--- Das alles ist sehr romantisch und sehr einseitig, aber man darf die sentimentalen Ausdrücke nur in die entsprechenden des Verstandes übersetzen, um das Richtige daraus herzuleiten. In Atala ist die Galanterie, die Sentimentalität und das Rococowesen ganz nach Bernardin's Muster, aber nie so kräftig, nie so graciös. Der junge Wilde Chactas fällt fortwährend vor seiner Geliebten aus die Kniee; diese legt sich „tau- send Fragen über den Zustand ihres Herzens" vor, und es erfolgen dann inbrün¬ stige Küsse — um das recht zu würdigen, muß man Catlin's Bilder aus Nord¬ amerika zur Hilfe nehmen — ; Atala ist die Tochter einer heimlichen Christin, sie hat ihrer Mutter auf dem Todbctt geloben müssen, keusch zu bleiben, und um dem Conflict dieses heiligen Gelübdes mit dem natürlichen Gefühl, das bei einer ein¬ samen Reise mit Chactas durch Prairien sehr lebhaft wird, zu entgehen, nimmt sie Gift. Das Ideal des Romans, der Pater Aubry, der die Wilden nach Art der Jesuiten in Paraguay civilisirt, tröstet ihre Todesstunde durch die Be¬ trachtung, daß sie nur wenig verliert, indem sie diese Welt verliert. Son¬ derbarer Weise hat der Grund, mit welchem er diesen Ausspruch motivirt, und der so ziemlich der einzige freie Gedanke ist, den ich in diesem Wust süßlicher Phraseologie entdecke, Anstoß erregt: „Die Schmerzen sind uicht ewig, früher oder später müssen sie aufhören, weil das menschliche Herz endlich ist; das ist eine von unseren Schwächen (c'e8t une av ne>8 Arimcles misvre8), daß wir nicht ein¬ mal im Stande sind, lange unglücklich zu sein . . . Wenn einige Jahre nach seinem Tode ein Mensch an's Tageslicht zurückkehrte, so zweifle ich, ob er selbst bei denen, die am meisten über seineu Tod geweint, einen freudigen Empfang finden würde, so schnell bilden sich neue Verbindungen, so wenig Werth hat unser Leben in dem Herzen unserer Freunde." — Die Wunder, die sich in der Erthei- lung der letzten Oelung ereignen, sind so wenig im Staude, uus einen befriedi¬ genden Eindruck zu hinterlassen, als der sentimentale Schluß, mit dem der Dichter die Austreibung des ihm liebgewordenen Jndiancrstammes auf sein eigenes Schicksal bezieht: Roms Ilourvux d-ins mon exit, ^ n"in p»int vmnortv Jos os as mes r/eres. Die zweite Novelle, Remy, schließt sich äußerlich an die vorhergehende an. Rene ist ein junger träumerischer Franzose, der ans Ueberdruß an der Civilisation sich in die amerikanischen Urwälder begibt, und dort Wilder wird, uuter der Anleitung des alten Chactas, der seit dem Tode seiner geliebten Atala ein be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/384>, abgerufen am 24.07.2024.