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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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einer conventionellen Empfindungsweise. Weichheit des Gefühls und erhöhte Stim¬
mung in einer Prosa, die nicht für die Kanzel berechnet war, mußte überraschen,
und wenn sie mit Geschick ausgeführt war, bezaubern. -- Auf Bernardin de Se.
Pierre erlaube mau mir mit einigen Worten zurückzugehen, weil sein ?nul et
Vii-xiniv seiner Zeit ein ähnliches Aufsehen erregte, und weil es das unmittelbare
Vorbild der Atala ist.

Bernardin war ein Schüler Rousseau's. Er theilte mit seinem Meister die
Sehnsucht nach der Natur, die er nicht nur in der Gesellschaft, sondern in der
eignen Seele (das ist der Unterschied von Werther) als eine Verlorne empfand.
Er flieht nicht nur vor der öffentlichen Corruption, sondern der des eignen Herzens
in die Einsamkeit. In I'tun et Vii-Fülle ziehen sich zwei Frauen mit ihren Kin-
dem vor den Anfechtungen civiliiirter Bosheit und Beschränktheit in eine abgele¬
gene Gegend der Insel Bourbon zurück. Um hier frei und nach der Natur
zu leben, müssen sie -- und das ist die beste Kritik dieser eingebildeten Natur!
-- Sclaven halten! Abgesehen davon, daß der Boden so gefällig ist, ohne die
Anstrengung des menschlichen Fleißes die schönsten Früchte hervorzubringen. Sie
verkehren mit Niemand, weil die Lenk ihnen zu gemein sind, sie gehen Mr Sonn¬
tags in die Kirche, und theilen Almosen ans. Ein alter Herr, gleichfalls Misan¬
throp, der sich ihnen zugesellt, hat die Ueberzeugung gewonnen, daß "der am min¬
desten unglückselige Zustand deö Lebens der sei, allein zu leben." "Seitdem die
Menschen nicht mehr in meinem Wege sind, und ich nicht in dem ihrigen, hasse
ich sie nicht mehr, sondern beklage sie nur." "Es ist unmöglich, an einer Em¬
pfindung leine dauerhafte Freude zu haben, oder sein Verfahren nach einem bestän¬
digen Grundsatz einzurichten, wenn man sich nicht im Innern eine heimliche Ein¬
samkeit bereitet, ans der die eigene Meinung selten hervortritt, und in die eine
fremde nie eindringt." -- In einer solchen Abgeschlossenheit kann natürlich nichts
geschehe" , und so flößt jener alte Herr seinem Zögling Paul Abneigung gegen
die Geschichte überhaupt und ausschließliche Liebe zur Natur ein. Was geschehen
soll, muß von Außen herankommen; durch äußerliche Einwirkungen wird das idyl¬
lische Glück gestört. Aber an dem eigentlichen bösen Ende ist doch die sittliche
Verschrobenheit Schuld. Schon als Kind erröchet die Heldin, Virginie, so oft
das Gespräch über Erbsen und Bohnen herausgeht; als sie nun durch einen
Schiffbruch in Lebensgefahr geräth, und nur durch Schwimmen gerettet werden
kann, ist sie zu schamhaft, sich zu entkleiden, und so geht sie unter, und wird als
Heilige von der ganzen Insel angebetet. Die gesammte Familie stirbt vor. Gram,
und der alte Herr singt den Chorus: der Tod ist ein Glück für alle Menschen.

Trotz dieser Sentimentalität ist doch in ?nul et ViiAinie eine gewisse Innig¬
keit und Einfachheit wenigstens im Detail -der Empfindungen, die man in der
Atala vergebens suchen würde. In einem andern Werk desselben Dichters, I^er
vtiaumiero ^ndienne, finde ich diese Einfachheit noch liebenswürdiger. Ein euro-


einer conventionellen Empfindungsweise. Weichheit des Gefühls und erhöhte Stim¬
mung in einer Prosa, die nicht für die Kanzel berechnet war, mußte überraschen,
und wenn sie mit Geschick ausgeführt war, bezaubern. — Auf Bernardin de Se.
Pierre erlaube mau mir mit einigen Worten zurückzugehen, weil sein ?nul et
Vii-xiniv seiner Zeit ein ähnliches Aufsehen erregte, und weil es das unmittelbare
Vorbild der Atala ist.

Bernardin war ein Schüler Rousseau's. Er theilte mit seinem Meister die
Sehnsucht nach der Natur, die er nicht nur in der Gesellschaft, sondern in der
eignen Seele (das ist der Unterschied von Werther) als eine Verlorne empfand.
Er flieht nicht nur vor der öffentlichen Corruption, sondern der des eignen Herzens
in die Einsamkeit. In I'tun et Vii-Fülle ziehen sich zwei Frauen mit ihren Kin-
dem vor den Anfechtungen civiliiirter Bosheit und Beschränktheit in eine abgele¬
gene Gegend der Insel Bourbon zurück. Um hier frei und nach der Natur
zu leben, müssen sie — und das ist die beste Kritik dieser eingebildeten Natur!
— Sclaven halten! Abgesehen davon, daß der Boden so gefällig ist, ohne die
Anstrengung des menschlichen Fleißes die schönsten Früchte hervorzubringen. Sie
verkehren mit Niemand, weil die Lenk ihnen zu gemein sind, sie gehen Mr Sonn¬
tags in die Kirche, und theilen Almosen ans. Ein alter Herr, gleichfalls Misan¬
throp, der sich ihnen zugesellt, hat die Ueberzeugung gewonnen, daß „der am min¬
desten unglückselige Zustand deö Lebens der sei, allein zu leben." „Seitdem die
Menschen nicht mehr in meinem Wege sind, und ich nicht in dem ihrigen, hasse
ich sie nicht mehr, sondern beklage sie nur." „Es ist unmöglich, an einer Em¬
pfindung leine dauerhafte Freude zu haben, oder sein Verfahren nach einem bestän¬
digen Grundsatz einzurichten, wenn man sich nicht im Innern eine heimliche Ein¬
samkeit bereitet, ans der die eigene Meinung selten hervortritt, und in die eine
fremde nie eindringt." — In einer solchen Abgeschlossenheit kann natürlich nichts
geschehe" , und so flößt jener alte Herr seinem Zögling Paul Abneigung gegen
die Geschichte überhaupt und ausschließliche Liebe zur Natur ein. Was geschehen
soll, muß von Außen herankommen; durch äußerliche Einwirkungen wird das idyl¬
lische Glück gestört. Aber an dem eigentlichen bösen Ende ist doch die sittliche
Verschrobenheit Schuld. Schon als Kind erröchet die Heldin, Virginie, so oft
das Gespräch über Erbsen und Bohnen herausgeht; als sie nun durch einen
Schiffbruch in Lebensgefahr geräth, und nur durch Schwimmen gerettet werden
kann, ist sie zu schamhaft, sich zu entkleiden, und so geht sie unter, und wird als
Heilige von der ganzen Insel angebetet. Die gesammte Familie stirbt vor. Gram,
und der alte Herr singt den Chorus: der Tod ist ein Glück für alle Menschen.

Trotz dieser Sentimentalität ist doch in ?nul et ViiAinie eine gewisse Innig¬
keit und Einfachheit wenigstens im Detail -der Empfindungen, die man in der
Atala vergebens suchen würde. In einem andern Werk desselben Dichters, I^er
vtiaumiero ^ndienne, finde ich diese Einfachheit noch liebenswürdiger. Ein euro-


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[0383] einer conventionellen Empfindungsweise. Weichheit des Gefühls und erhöhte Stim¬ mung in einer Prosa, die nicht für die Kanzel berechnet war, mußte überraschen, und wenn sie mit Geschick ausgeführt war, bezaubern. — Auf Bernardin de Se. Pierre erlaube mau mir mit einigen Worten zurückzugehen, weil sein ?nul et Vii-xiniv seiner Zeit ein ähnliches Aufsehen erregte, und weil es das unmittelbare Vorbild der Atala ist. Bernardin war ein Schüler Rousseau's. Er theilte mit seinem Meister die Sehnsucht nach der Natur, die er nicht nur in der Gesellschaft, sondern in der eignen Seele (das ist der Unterschied von Werther) als eine Verlorne empfand. Er flieht nicht nur vor der öffentlichen Corruption, sondern der des eignen Herzens in die Einsamkeit. In I'tun et Vii-Fülle ziehen sich zwei Frauen mit ihren Kin- dem vor den Anfechtungen civiliiirter Bosheit und Beschränktheit in eine abgele¬ gene Gegend der Insel Bourbon zurück. Um hier frei und nach der Natur zu leben, müssen sie — und das ist die beste Kritik dieser eingebildeten Natur! — Sclaven halten! Abgesehen davon, daß der Boden so gefällig ist, ohne die Anstrengung des menschlichen Fleißes die schönsten Früchte hervorzubringen. Sie verkehren mit Niemand, weil die Lenk ihnen zu gemein sind, sie gehen Mr Sonn¬ tags in die Kirche, und theilen Almosen ans. Ein alter Herr, gleichfalls Misan¬ throp, der sich ihnen zugesellt, hat die Ueberzeugung gewonnen, daß „der am min¬ desten unglückselige Zustand deö Lebens der sei, allein zu leben." „Seitdem die Menschen nicht mehr in meinem Wege sind, und ich nicht in dem ihrigen, hasse ich sie nicht mehr, sondern beklage sie nur." „Es ist unmöglich, an einer Em¬ pfindung leine dauerhafte Freude zu haben, oder sein Verfahren nach einem bestän¬ digen Grundsatz einzurichten, wenn man sich nicht im Innern eine heimliche Ein¬ samkeit bereitet, ans der die eigene Meinung selten hervortritt, und in die eine fremde nie eindringt." — In einer solchen Abgeschlossenheit kann natürlich nichts geschehe" , und so flößt jener alte Herr seinem Zögling Paul Abneigung gegen die Geschichte überhaupt und ausschließliche Liebe zur Natur ein. Was geschehen soll, muß von Außen herankommen; durch äußerliche Einwirkungen wird das idyl¬ lische Glück gestört. Aber an dem eigentlichen bösen Ende ist doch die sittliche Verschrobenheit Schuld. Schon als Kind erröchet die Heldin, Virginie, so oft das Gespräch über Erbsen und Bohnen herausgeht; als sie nun durch einen Schiffbruch in Lebensgefahr geräth, und nur durch Schwimmen gerettet werden kann, ist sie zu schamhaft, sich zu entkleiden, und so geht sie unter, und wird als Heilige von der ganzen Insel angebetet. Die gesammte Familie stirbt vor. Gram, und der alte Herr singt den Chorus: der Tod ist ein Glück für alle Menschen. Trotz dieser Sentimentalität ist doch in ?nul et ViiAinie eine gewisse Innig¬ keit und Einfachheit wenigstens im Detail -der Empfindungen, die man in der Atala vergebens suchen würde. In einem andern Werk desselben Dichters, I^er vtiaumiero ^ndienne, finde ich diese Einfachheit noch liebenswürdiger. Ein euro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/383>, abgerufen am 27.06.2024.