Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Gegenden des Erdballs ihre Musikanten zusammenruft. -- Aber das alles ist nur
für uns, zu unserm ästhetischen Vergnügen oder praktischen Nutzen, z. B. die
Wüste -- für welche Chateaubriand jeden Augenblick in nnmotivirten Enthusias¬
mus ausbricht, -- das Meer, der Urwald sind darum da, um in uus das Ge¬
fühl des Erhabenen zu erwecken, selbst die Wanderungen der Thiere haben einen
solchen ästhetischen oder praktischen Zweck. -- Auch die Liebe zum Vaterlande soll
das Dasein Gottes beweisen, weil sie doch einen Urheber haben müsse. Den
Bauern wird ein melancholischer Instinct zugeschrieben, der ihnen den Himmel zeige.
-- In dergleichen gedankenlosen Einfällen geht es weiter, bis endlich der Trumpf
ausgespielt wird: der Atheismus bringe keinen Nutzen, mache aber viel Kummer,
darum sei es zweckmäßig, ihn zu vermeiden. --

Die Aufklärung hatte im Namen der Kunst gegen die Abstractionen des Chri¬
stenthums protestirt; Chateaubriand sucht nun nachzuweisen, daß es vielmehr der
Kunst sehr nützlich sei. Es sei nicht eigentlich Gegenstand der Poesie, aber ein
sehr wirksames Mittel, so namentlich die heilige Geschichte, die Legenden mit ein-
begriffen. Sogar Voltaire der Spötter habe sich in seinen Poesien (Zaire, Alzire)
an das Christenthum halten müssen. Es wird nun eine Vergleichung zwischen
der heidnischen und christlichen Poesie angestellt, und wir erfahren zu unserm Er¬
staunen, daß die Figuren des französischen Theaters weit höher stehen als alle
Schöpfungen der Griechen. -- Das Christenthum -- hier treffen wir einmal auf
einen wirklichen Gedanken -- ist wie ein Wind, der die Segel der Tugend an¬
schwellt und die Stürme des Gewissens vervielfältigt. --- Die tiefere Durchfor¬
schung der Sünde hat allerdings die tragische Poesie bereichert. -- Die Verglei¬
chung der christlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) mit den heidnischen,
und die Entwicklung der christlichen sieben Todsünden ist sehr oberflächlich gehalten
und verdient eine genauere Erörterung. Chateaubriand kommt es nicht viel dar¬
auf an, im Augenblick, wo er eine bestimmte Seite der Betrachtung braucht, die
Totalität des Wesens vollkommen aus den Augen zu verliere"; so erzählt er ein¬
mal mit großer Genugthuung, daß der christliche Gott noch leidenschaftlicher sei
als Jupiter, und daß die christliche Kunst auch in der Darstellung der sinnlichen
Lust die Griechen übertreffen habe. --, Vor allem aber wird die christliche Me¬
lancholie als Urquell der eigentlichen Poesie, namentlich der descriptiven, gefeiert,
welche den Alten ganz unbekannt war: eben die Neigung zur Einsamkeit und zur
stillen Gemeinschaft mit Gott führe die Menschen in die Wüsten und Urwälder,
und erschließe ihnen dort die Geheimnisse der Natur und die Wunder einer über¬
irdischen Welt. Die letztere sei mit einem viel zweckmäßigem Geschmack gruppirt
als die heidnische, in die Doppelreihe der guten und bösen, und die christliche
Hölle zeichne sich nicht allein durch eine viel größere Virtuosität in der Erfindung
von Martern ans l-t povsiv ach torture" et los ir^auch ä<z ig, clair ol. "In
sang- seien eine specifisch christliche Kunst, und alle Sagen vom Tartarus wären


Gegenden des Erdballs ihre Musikanten zusammenruft. — Aber das alles ist nur
für uns, zu unserm ästhetischen Vergnügen oder praktischen Nutzen, z. B. die
Wüste — für welche Chateaubriand jeden Augenblick in nnmotivirten Enthusias¬
mus ausbricht, — das Meer, der Urwald sind darum da, um in uus das Ge¬
fühl des Erhabenen zu erwecken, selbst die Wanderungen der Thiere haben einen
solchen ästhetischen oder praktischen Zweck. — Auch die Liebe zum Vaterlande soll
das Dasein Gottes beweisen, weil sie doch einen Urheber haben müsse. Den
Bauern wird ein melancholischer Instinct zugeschrieben, der ihnen den Himmel zeige.
— In dergleichen gedankenlosen Einfällen geht es weiter, bis endlich der Trumpf
ausgespielt wird: der Atheismus bringe keinen Nutzen, mache aber viel Kummer,
darum sei es zweckmäßig, ihn zu vermeiden. —

Die Aufklärung hatte im Namen der Kunst gegen die Abstractionen des Chri¬
stenthums protestirt; Chateaubriand sucht nun nachzuweisen, daß es vielmehr der
Kunst sehr nützlich sei. Es sei nicht eigentlich Gegenstand der Poesie, aber ein
sehr wirksames Mittel, so namentlich die heilige Geschichte, die Legenden mit ein-
begriffen. Sogar Voltaire der Spötter habe sich in seinen Poesien (Zaire, Alzire)
an das Christenthum halten müssen. Es wird nun eine Vergleichung zwischen
der heidnischen und christlichen Poesie angestellt, und wir erfahren zu unserm Er¬
staunen, daß die Figuren des französischen Theaters weit höher stehen als alle
Schöpfungen der Griechen. — Das Christenthum — hier treffen wir einmal auf
einen wirklichen Gedanken — ist wie ein Wind, der die Segel der Tugend an¬
schwellt und die Stürme des Gewissens vervielfältigt. —- Die tiefere Durchfor¬
schung der Sünde hat allerdings die tragische Poesie bereichert. — Die Verglei¬
chung der christlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) mit den heidnischen,
und die Entwicklung der christlichen sieben Todsünden ist sehr oberflächlich gehalten
und verdient eine genauere Erörterung. Chateaubriand kommt es nicht viel dar¬
auf an, im Augenblick, wo er eine bestimmte Seite der Betrachtung braucht, die
Totalität des Wesens vollkommen aus den Augen zu verliere»; so erzählt er ein¬
mal mit großer Genugthuung, daß der christliche Gott noch leidenschaftlicher sei
als Jupiter, und daß die christliche Kunst auch in der Darstellung der sinnlichen
Lust die Griechen übertreffen habe. —, Vor allem aber wird die christliche Me¬
lancholie als Urquell der eigentlichen Poesie, namentlich der descriptiven, gefeiert,
welche den Alten ganz unbekannt war: eben die Neigung zur Einsamkeit und zur
stillen Gemeinschaft mit Gott führe die Menschen in die Wüsten und Urwälder,
und erschließe ihnen dort die Geheimnisse der Natur und die Wunder einer über¬
irdischen Welt. Die letztere sei mit einem viel zweckmäßigem Geschmack gruppirt
als die heidnische, in die Doppelreihe der guten und bösen, und die christliche
Hölle zeichne sich nicht allein durch eine viel größere Virtuosität in der Erfindung
von Martern ans l-t povsiv ach torture« et los ir^auch ä<z ig, clair ol. «In
sang- seien eine specifisch christliche Kunst, und alle Sagen vom Tartarus wären


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0380" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93203"/>
            <p xml:id="ID_1316" prev="#ID_1315"> Gegenden des Erdballs ihre Musikanten zusammenruft. &#x2014; Aber das alles ist nur<lb/>
für uns, zu unserm ästhetischen Vergnügen oder praktischen Nutzen, z. B. die<lb/>
Wüste &#x2014; für welche Chateaubriand jeden Augenblick in nnmotivirten Enthusias¬<lb/>
mus ausbricht, &#x2014; das Meer, der Urwald sind darum da, um in uus das Ge¬<lb/>
fühl des Erhabenen zu erwecken, selbst die Wanderungen der Thiere haben einen<lb/>
solchen ästhetischen oder praktischen Zweck. &#x2014; Auch die Liebe zum Vaterlande soll<lb/>
das Dasein Gottes beweisen, weil sie doch einen Urheber haben müsse. Den<lb/>
Bauern wird ein melancholischer Instinct zugeschrieben, der ihnen den Himmel zeige.<lb/>
&#x2014; In dergleichen gedankenlosen Einfällen geht es weiter, bis endlich der Trumpf<lb/>
ausgespielt wird: der Atheismus bringe keinen Nutzen, mache aber viel Kummer,<lb/>
darum sei es zweckmäßig, ihn zu vermeiden. &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1317" next="#ID_1318"> Die Aufklärung hatte im Namen der Kunst gegen die Abstractionen des Chri¬<lb/>
stenthums protestirt; Chateaubriand sucht nun nachzuweisen, daß es vielmehr der<lb/>
Kunst sehr nützlich sei. Es sei nicht eigentlich Gegenstand der Poesie, aber ein<lb/>
sehr wirksames Mittel, so namentlich die heilige Geschichte, die Legenden mit ein-<lb/>
begriffen. Sogar Voltaire der Spötter habe sich in seinen Poesien (Zaire, Alzire)<lb/>
an das Christenthum halten müssen. Es wird nun eine Vergleichung zwischen<lb/>
der heidnischen und christlichen Poesie angestellt, und wir erfahren zu unserm Er¬<lb/>
staunen, daß die Figuren des französischen Theaters weit höher stehen als alle<lb/>
Schöpfungen der Griechen. &#x2014; Das Christenthum &#x2014; hier treffen wir einmal auf<lb/>
einen wirklichen Gedanken &#x2014; ist wie ein Wind, der die Segel der Tugend an¬<lb/>
schwellt und die Stürme des Gewissens vervielfältigt. &#x2014;- Die tiefere Durchfor¬<lb/>
schung der Sünde hat allerdings die tragische Poesie bereichert. &#x2014; Die Verglei¬<lb/>
chung der christlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) mit den heidnischen,<lb/>
und die Entwicklung der christlichen sieben Todsünden ist sehr oberflächlich gehalten<lb/>
und verdient eine genauere Erörterung. Chateaubriand kommt es nicht viel dar¬<lb/>
auf an, im Augenblick, wo er eine bestimmte Seite der Betrachtung braucht, die<lb/>
Totalität des Wesens vollkommen aus den Augen zu verliere»; so erzählt er ein¬<lb/>
mal mit großer Genugthuung, daß der christliche Gott noch leidenschaftlicher sei<lb/>
als Jupiter, und daß die christliche Kunst auch in der Darstellung der sinnlichen<lb/>
Lust die Griechen übertreffen habe. &#x2014;, Vor allem aber wird die christliche Me¬<lb/>
lancholie als Urquell der eigentlichen Poesie, namentlich der descriptiven, gefeiert,<lb/>
welche den Alten ganz unbekannt war: eben die Neigung zur Einsamkeit und zur<lb/>
stillen Gemeinschaft mit Gott führe die Menschen in die Wüsten und Urwälder,<lb/>
und erschließe ihnen dort die Geheimnisse der Natur und die Wunder einer über¬<lb/>
irdischen Welt. Die letztere sei mit einem viel zweckmäßigem Geschmack gruppirt<lb/>
als die heidnische, in die Doppelreihe der guten und bösen, und die christliche<lb/>
Hölle zeichne sich nicht allein durch eine viel größere Virtuosität in der Erfindung<lb/>
von Martern ans l-t povsiv ach torture« et los ir^auch ä&lt;z ig, clair ol. «In<lb/>
sang- seien eine specifisch christliche Kunst, und alle Sagen vom Tartarus wären</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0380] Gegenden des Erdballs ihre Musikanten zusammenruft. — Aber das alles ist nur für uns, zu unserm ästhetischen Vergnügen oder praktischen Nutzen, z. B. die Wüste — für welche Chateaubriand jeden Augenblick in nnmotivirten Enthusias¬ mus ausbricht, — das Meer, der Urwald sind darum da, um in uus das Ge¬ fühl des Erhabenen zu erwecken, selbst die Wanderungen der Thiere haben einen solchen ästhetischen oder praktischen Zweck. — Auch die Liebe zum Vaterlande soll das Dasein Gottes beweisen, weil sie doch einen Urheber haben müsse. Den Bauern wird ein melancholischer Instinct zugeschrieben, der ihnen den Himmel zeige. — In dergleichen gedankenlosen Einfällen geht es weiter, bis endlich der Trumpf ausgespielt wird: der Atheismus bringe keinen Nutzen, mache aber viel Kummer, darum sei es zweckmäßig, ihn zu vermeiden. — Die Aufklärung hatte im Namen der Kunst gegen die Abstractionen des Chri¬ stenthums protestirt; Chateaubriand sucht nun nachzuweisen, daß es vielmehr der Kunst sehr nützlich sei. Es sei nicht eigentlich Gegenstand der Poesie, aber ein sehr wirksames Mittel, so namentlich die heilige Geschichte, die Legenden mit ein- begriffen. Sogar Voltaire der Spötter habe sich in seinen Poesien (Zaire, Alzire) an das Christenthum halten müssen. Es wird nun eine Vergleichung zwischen der heidnischen und christlichen Poesie angestellt, und wir erfahren zu unserm Er¬ staunen, daß die Figuren des französischen Theaters weit höher stehen als alle Schöpfungen der Griechen. — Das Christenthum — hier treffen wir einmal auf einen wirklichen Gedanken — ist wie ein Wind, der die Segel der Tugend an¬ schwellt und die Stürme des Gewissens vervielfältigt. —- Die tiefere Durchfor¬ schung der Sünde hat allerdings die tragische Poesie bereichert. — Die Verglei¬ chung der christlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) mit den heidnischen, und die Entwicklung der christlichen sieben Todsünden ist sehr oberflächlich gehalten und verdient eine genauere Erörterung. Chateaubriand kommt es nicht viel dar¬ auf an, im Augenblick, wo er eine bestimmte Seite der Betrachtung braucht, die Totalität des Wesens vollkommen aus den Augen zu verliere»; so erzählt er ein¬ mal mit großer Genugthuung, daß der christliche Gott noch leidenschaftlicher sei als Jupiter, und daß die christliche Kunst auch in der Darstellung der sinnlichen Lust die Griechen übertreffen habe. —, Vor allem aber wird die christliche Me¬ lancholie als Urquell der eigentlichen Poesie, namentlich der descriptiven, gefeiert, welche den Alten ganz unbekannt war: eben die Neigung zur Einsamkeit und zur stillen Gemeinschaft mit Gott führe die Menschen in die Wüsten und Urwälder, und erschließe ihnen dort die Geheimnisse der Natur und die Wunder einer über¬ irdischen Welt. Die letztere sei mit einem viel zweckmäßigem Geschmack gruppirt als die heidnische, in die Doppelreihe der guten und bösen, und die christliche Hölle zeichne sich nicht allein durch eine viel größere Virtuosität in der Erfindung von Martern ans l-t povsiv ach torture« et los ir^auch ä<z ig, clair ol. «In sang- seien eine specifisch christliche Kunst, und alle Sagen vom Tartarus wären

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/380
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/380>, abgerufen am 27.06.2024.