Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

als Verräther und wird wie ein Verräther angesehen. Der Glaube an Tugend,
männliche Treue und Ehrenhaftigkeit ist verschwunden. Wer Polen ehedem, selbst
noch im vorletzten Jahrzehend kennen gelernt hat und das unglückliche Land jetzt
wiedersieht, der schaudert, er glaubt, in eine andere Nation versetzt zu sein, denn
Niemand naht ihm mehr mit freier Stirn und Hellem offenen Auge; alles stielt
ihn mi>t düsterem schüchternem Blicke an und zieht sich scheu zurück.

Doch weiter in unserer Naturgeschichte der geheimen Agenten. Doch die
Hotelsactoren darf ich der Gefahr nicht aussetzen, hier übergangen zu werden.
Sie sind fast ohne Ausnahme Juden in christlicher Tracht und bisweilen die pos-
sirlichsten Kerle von der Welt, eben so zudringlich und gefährlich als komisch und
narrenhaft. Der Fremde hat kaum die Schwelle seines Zimmers überschritten, so
ist auch der "Factor" da, meldet sich als Einer, der Alles weiß, Alles gilt und
Alles vermag, der in allen Aemtern Bekanntschaft hat, für die Fremden die Ge¬
fräste bei dem Muuicipalgericht, bei der Censurcommission, im Paßbureau, bei
der Schatzcommission, beim Polizeimcister, in der fürstlichen Kanzlei, in der kai¬
serlichen Staatsbank, bei allen Banquiers und Handelshäusern, kurz überall Alles
besorgt; der alle Raritäten der Stadt kennt und der beste Führer ist; der die
vorzüglichsten Kaffeestnben und Speisehäuser kennt, den besten Tisch und die besten
Amüsements jeder Art besorgen kann u. s. w. Einen solchen Menschen brauchen
die Fremden gewöhnlich sehr; aber kaum ist dessen Vormundschaft angenommen,
so beginnt er schon zu'forschen: woher man kommt, wohin man will, wen man
besucht, welche Ursache und welchen Zweck die Reise hat, was es in der Fremde
neues Politisches gibt, was man dazu meint, in wie weit man dabei betheiligt
ist u. s. w. Am anderen Tage könnte man von diesem Allen eine sehr genaue Aus¬
zeichnung im geheimen Bureau des Generalpolizeimeisters finden. Nimmt man einen
Factor zum FiDrer, so leitet er einen am liebsten an Orte, welche zu gefährlichen
Bemerkungen Anlaß geben. In den Museen des Lyceums stellt er einem die
traurigen Ueberreste der ehemaligen so glänzenden Universität dar, und erzählt das
empörende Schicksal, dem die polnischen Schulen verfallen sind, wie man die
obersten zwei Klassen und die wichtigsten Lehrzwcige vernichtet habe, wie man
Viele der vortrefflichsten Lehrer penstonirt, Andere ihrer Aemter beraubt, dagegen
dumme russische Offiziere in ihre Stellen gesetzt hat u. s. w. Außerhalb War¬
schau führt er am liebsten in die Citadelle und bei dem Dorfe Wola in die neue
kleine russische Kirche, in welcher ,ends riesenhafte Metalltafeln mit goldenen Buch¬
staben die Geschichte des unüberwindlichen kaiserlich russischen Heeres während der
polnischen Revolution erzählen. Der Fremde, und wäre er ein Russe, kann, wenn er
einiges Gewissen und Wahrheitsgefühl besitzt, Nicht ohne Unwillen die Entstellun¬
gen, Lügen und Großprahlereien der sechs russischen Gedenktafeln lesen; der Spion
aber merkt ans jede Aeußerung und weiß, wohin er dieselbe weiter befördert.
Diese sechs Evangelien der russischen Herrschaft haben schon Manchen in eine


43*

als Verräther und wird wie ein Verräther angesehen. Der Glaube an Tugend,
männliche Treue und Ehrenhaftigkeit ist verschwunden. Wer Polen ehedem, selbst
noch im vorletzten Jahrzehend kennen gelernt hat und das unglückliche Land jetzt
wiedersieht, der schaudert, er glaubt, in eine andere Nation versetzt zu sein, denn
Niemand naht ihm mehr mit freier Stirn und Hellem offenen Auge; alles stielt
ihn mi>t düsterem schüchternem Blicke an und zieht sich scheu zurück.

Doch weiter in unserer Naturgeschichte der geheimen Agenten. Doch die
Hotelsactoren darf ich der Gefahr nicht aussetzen, hier übergangen zu werden.
Sie sind fast ohne Ausnahme Juden in christlicher Tracht und bisweilen die pos-
sirlichsten Kerle von der Welt, eben so zudringlich und gefährlich als komisch und
narrenhaft. Der Fremde hat kaum die Schwelle seines Zimmers überschritten, so
ist auch der „Factor" da, meldet sich als Einer, der Alles weiß, Alles gilt und
Alles vermag, der in allen Aemtern Bekanntschaft hat, für die Fremden die Ge¬
fräste bei dem Muuicipalgericht, bei der Censurcommission, im Paßbureau, bei
der Schatzcommission, beim Polizeimcister, in der fürstlichen Kanzlei, in der kai¬
serlichen Staatsbank, bei allen Banquiers und Handelshäusern, kurz überall Alles
besorgt; der alle Raritäten der Stadt kennt und der beste Führer ist; der die
vorzüglichsten Kaffeestnben und Speisehäuser kennt, den besten Tisch und die besten
Amüsements jeder Art besorgen kann u. s. w. Einen solchen Menschen brauchen
die Fremden gewöhnlich sehr; aber kaum ist dessen Vormundschaft angenommen,
so beginnt er schon zu'forschen: woher man kommt, wohin man will, wen man
besucht, welche Ursache und welchen Zweck die Reise hat, was es in der Fremde
neues Politisches gibt, was man dazu meint, in wie weit man dabei betheiligt
ist u. s. w. Am anderen Tage könnte man von diesem Allen eine sehr genaue Aus¬
zeichnung im geheimen Bureau des Generalpolizeimeisters finden. Nimmt man einen
Factor zum FiDrer, so leitet er einen am liebsten an Orte, welche zu gefährlichen
Bemerkungen Anlaß geben. In den Museen des Lyceums stellt er einem die
traurigen Ueberreste der ehemaligen so glänzenden Universität dar, und erzählt das
empörende Schicksal, dem die polnischen Schulen verfallen sind, wie man die
obersten zwei Klassen und die wichtigsten Lehrzwcige vernichtet habe, wie man
Viele der vortrefflichsten Lehrer penstonirt, Andere ihrer Aemter beraubt, dagegen
dumme russische Offiziere in ihre Stellen gesetzt hat u. s. w. Außerhalb War¬
schau führt er am liebsten in die Citadelle und bei dem Dorfe Wola in die neue
kleine russische Kirche, in welcher ,ends riesenhafte Metalltafeln mit goldenen Buch¬
staben die Geschichte des unüberwindlichen kaiserlich russischen Heeres während der
polnischen Revolution erzählen. Der Fremde, und wäre er ein Russe, kann, wenn er
einiges Gewissen und Wahrheitsgefühl besitzt, Nicht ohne Unwillen die Entstellun¬
gen, Lügen und Großprahlereien der sechs russischen Gedenktafeln lesen; der Spion
aber merkt ans jede Aeußerung und weiß, wohin er dieselbe weiter befördert.
Diese sechs Evangelien der russischen Herrschaft haben schon Manchen in eine


43*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0347" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93170"/>
            <p xml:id="ID_1194" prev="#ID_1193"> als Verräther und wird wie ein Verräther angesehen. Der Glaube an Tugend,<lb/>
männliche Treue und Ehrenhaftigkeit ist verschwunden. Wer Polen ehedem, selbst<lb/>
noch im vorletzten Jahrzehend kennen gelernt hat und das unglückliche Land jetzt<lb/>
wiedersieht, der schaudert, er glaubt, in eine andere Nation versetzt zu sein, denn<lb/>
Niemand naht ihm mehr mit freier Stirn und Hellem offenen Auge; alles stielt<lb/>
ihn mi&gt;t düsterem schüchternem Blicke an und zieht sich scheu zurück.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1195" next="#ID_1196"> Doch weiter in unserer Naturgeschichte der geheimen Agenten. Doch die<lb/>
Hotelsactoren darf ich der Gefahr nicht aussetzen, hier übergangen zu werden.<lb/>
Sie sind fast ohne Ausnahme Juden in christlicher Tracht und bisweilen die pos-<lb/>
sirlichsten Kerle von der Welt, eben so zudringlich und gefährlich als komisch und<lb/>
narrenhaft. Der Fremde hat kaum die Schwelle seines Zimmers überschritten, so<lb/>
ist auch der &#x201E;Factor" da, meldet sich als Einer, der Alles weiß, Alles gilt und<lb/>
Alles vermag, der in allen Aemtern Bekanntschaft hat, für die Fremden die Ge¬<lb/>
fräste bei dem Muuicipalgericht, bei der Censurcommission, im Paßbureau, bei<lb/>
der Schatzcommission, beim Polizeimcister, in der fürstlichen Kanzlei, in der kai¬<lb/>
serlichen Staatsbank, bei allen Banquiers und Handelshäusern, kurz überall Alles<lb/>
besorgt; der alle Raritäten der Stadt kennt und der beste Führer ist; der die<lb/>
vorzüglichsten Kaffeestnben und Speisehäuser kennt, den besten Tisch und die besten<lb/>
Amüsements jeder Art besorgen kann u. s. w.  Einen solchen Menschen brauchen<lb/>
die Fremden gewöhnlich sehr; aber kaum ist dessen Vormundschaft angenommen,<lb/>
so beginnt er schon zu'forschen: woher man kommt, wohin man will, wen man<lb/>
besucht, welche Ursache und welchen Zweck die Reise hat, was es in der Fremde<lb/>
neues Politisches gibt, was man dazu meint, in wie weit man dabei betheiligt<lb/>
ist u. s. w. Am anderen Tage könnte man von diesem Allen eine sehr genaue Aus¬<lb/>
zeichnung im geheimen Bureau des Generalpolizeimeisters finden. Nimmt man einen<lb/>
Factor zum FiDrer, so leitet er einen am liebsten an Orte, welche zu gefährlichen<lb/>
Bemerkungen Anlaß geben.  In den Museen des Lyceums stellt er einem die<lb/>
traurigen Ueberreste der ehemaligen so glänzenden Universität dar, und erzählt das<lb/>
empörende Schicksal, dem die polnischen Schulen verfallen sind, wie man die<lb/>
obersten zwei Klassen und die wichtigsten Lehrzwcige vernichtet habe, wie man<lb/>
Viele der vortrefflichsten Lehrer penstonirt, Andere ihrer Aemter beraubt, dagegen<lb/>
dumme russische Offiziere in ihre Stellen gesetzt hat u. s. w. Außerhalb War¬<lb/>
schau führt er am liebsten in die Citadelle und bei dem Dorfe Wola in die neue<lb/>
kleine russische Kirche, in welcher ,ends riesenhafte Metalltafeln mit goldenen Buch¬<lb/>
staben die Geschichte des unüberwindlichen kaiserlich russischen Heeres während der<lb/>
polnischen Revolution erzählen. Der Fremde, und wäre er ein Russe, kann, wenn er<lb/>
einiges Gewissen und Wahrheitsgefühl besitzt, Nicht ohne Unwillen die Entstellun¬<lb/>
gen, Lügen und Großprahlereien der sechs russischen Gedenktafeln lesen; der Spion<lb/>
aber merkt ans jede Aeußerung und weiß, wohin er dieselbe weiter befördert.<lb/>
Diese sechs Evangelien der russischen Herrschaft haben schon Manchen in eine</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 43*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0347] als Verräther und wird wie ein Verräther angesehen. Der Glaube an Tugend, männliche Treue und Ehrenhaftigkeit ist verschwunden. Wer Polen ehedem, selbst noch im vorletzten Jahrzehend kennen gelernt hat und das unglückliche Land jetzt wiedersieht, der schaudert, er glaubt, in eine andere Nation versetzt zu sein, denn Niemand naht ihm mehr mit freier Stirn und Hellem offenen Auge; alles stielt ihn mi>t düsterem schüchternem Blicke an und zieht sich scheu zurück. Doch weiter in unserer Naturgeschichte der geheimen Agenten. Doch die Hotelsactoren darf ich der Gefahr nicht aussetzen, hier übergangen zu werden. Sie sind fast ohne Ausnahme Juden in christlicher Tracht und bisweilen die pos- sirlichsten Kerle von der Welt, eben so zudringlich und gefährlich als komisch und narrenhaft. Der Fremde hat kaum die Schwelle seines Zimmers überschritten, so ist auch der „Factor" da, meldet sich als Einer, der Alles weiß, Alles gilt und Alles vermag, der in allen Aemtern Bekanntschaft hat, für die Fremden die Ge¬ fräste bei dem Muuicipalgericht, bei der Censurcommission, im Paßbureau, bei der Schatzcommission, beim Polizeimcister, in der fürstlichen Kanzlei, in der kai¬ serlichen Staatsbank, bei allen Banquiers und Handelshäusern, kurz überall Alles besorgt; der alle Raritäten der Stadt kennt und der beste Führer ist; der die vorzüglichsten Kaffeestnben und Speisehäuser kennt, den besten Tisch und die besten Amüsements jeder Art besorgen kann u. s. w. Einen solchen Menschen brauchen die Fremden gewöhnlich sehr; aber kaum ist dessen Vormundschaft angenommen, so beginnt er schon zu'forschen: woher man kommt, wohin man will, wen man besucht, welche Ursache und welchen Zweck die Reise hat, was es in der Fremde neues Politisches gibt, was man dazu meint, in wie weit man dabei betheiligt ist u. s. w. Am anderen Tage könnte man von diesem Allen eine sehr genaue Aus¬ zeichnung im geheimen Bureau des Generalpolizeimeisters finden. Nimmt man einen Factor zum FiDrer, so leitet er einen am liebsten an Orte, welche zu gefährlichen Bemerkungen Anlaß geben. In den Museen des Lyceums stellt er einem die traurigen Ueberreste der ehemaligen so glänzenden Universität dar, und erzählt das empörende Schicksal, dem die polnischen Schulen verfallen sind, wie man die obersten zwei Klassen und die wichtigsten Lehrzwcige vernichtet habe, wie man Viele der vortrefflichsten Lehrer penstonirt, Andere ihrer Aemter beraubt, dagegen dumme russische Offiziere in ihre Stellen gesetzt hat u. s. w. Außerhalb War¬ schau führt er am liebsten in die Citadelle und bei dem Dorfe Wola in die neue kleine russische Kirche, in welcher ,ends riesenhafte Metalltafeln mit goldenen Buch¬ staben die Geschichte des unüberwindlichen kaiserlich russischen Heeres während der polnischen Revolution erzählen. Der Fremde, und wäre er ein Russe, kann, wenn er einiges Gewissen und Wahrheitsgefühl besitzt, Nicht ohne Unwillen die Entstellun¬ gen, Lügen und Großprahlereien der sechs russischen Gedenktafeln lesen; der Spion aber merkt ans jede Aeußerung und weiß, wohin er dieselbe weiter befördert. Diese sechs Evangelien der russischen Herrschaft haben schon Manchen in eine 43*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/347
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/347>, abgerufen am 21.06.2024.