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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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und ihm die belebenden Ideen einzuflößen, die sich jetzt außer ihm und gegen ihn
bewegen, kaun die Gesellschaft diesen neuen Fanatismus im Keim ersticken, eine
zweite, schlimmere Krisis der Menschheit. Die Gesänge des Hafis und die Sprüche
der Sunna werden diesen finsteren Geist so wenig beschwören, als die Predigten
des Pater Ravignan.




Wie steht es eigentlich mit unserer Religion? Sind wir, die wir den Mantel
der christlichen Liebe von uns geworfen haben, und uns weder in das morgen- -
kurdische Gewand des modernen Hafis noch in die communistische Uniform kleiden
wollen, sind wir Nichtswüthriche und Atheisten? Oder halten wir noch fest an
den Kantischen Postulaten der reinen Vernunft, Gott, Freiheit und Uusterb- v
lichte-t. --

An die Freiheit zu glauben, haben wir nicht nöthig, denn wenn wir nicht
verschroben sind, so wissen wir in jedem Augenblick genau, wie weit wir frei find,
d. h. wieweit sich unsere Thätigkeit nach den Gesetzen unseres Denkens und Em¬
pfindens bestimmt. Wir sind frei, und können darauf stolz sein, aber wir sind
auch gebunden, gebunden durch Liebe, durch das Recht, durch das Gesetz der Na-
tur. Erst in dieser Gebundenheit wird unsere Freiheit wirklich, denn erst in ihr
können wir empfinden, genießen, denken, handeln. Wir verehren die Natur, denn
wir gehören ihr an; aber wir opfern ihr nicht unser Selbstgefühl, denn sie muß
unsern vernünftigen Fragen antworten, unserm vernünftigen Willen dienen; der
Geist steht höher als die Natur, wenn er auch nur in der Natur ist. Unser
Glaube an Gott beschränkt sich aus die Gewißheit, daß die Welt in festen Angeln
ruht, auch wenn unser Ich mit seinem Wünschen und Hoffen in Staub zerfällt.
Die Vorstellungsweise einer rohen Zeit -- die religiöse --- stellt den Egoismus
dem Gesetz, die Poesie der Wirklichkeit, den Himmel der Erde gegenüber. . Unser
Egoismus realistrt sich nur im Gesetz, unsere Poesie im Leben, unser Himmel auf
der Erde. Will man die Poesie -- den Glauben des Gemüths an sich selbst und
an das Große, Gute und Schöne, das aus der Natur und Geschichte in ihm wie¬
derstrahlt -- will man diesen Glauben Religion nennen, so ist dagegen nichts zu
sagen, so lauge man sich nur daran erinnert, daß diese Religion in ihrem Grund¬
begriff verschieden ist von dem, was man sonst Religion nennt. Sie kennt keinen
Haß und keinen Fanatismus; eben darum aber -- und das ist es, warum ich
von Danaer abweiche - bescheidet sie sich, nicht die weltbewegende Kraft des
Geistes und der Geschichte zu sein. Die Musen gehörten nie zu deu Gottheiten
des Krieges; die Leidenschaften waren ihr Gegenstand, aber nicht ihr Erzeugniß.
Die Geschichte wird bewegt durch den Conflict der Leidenschaft mit den feindlichen
Mächten; unsere Poesie hat die Aufgabe, diesen Conflict zu versöhnen.




und ihm die belebenden Ideen einzuflößen, die sich jetzt außer ihm und gegen ihn
bewegen, kaun die Gesellschaft diesen neuen Fanatismus im Keim ersticken, eine
zweite, schlimmere Krisis der Menschheit. Die Gesänge des Hafis und die Sprüche
der Sunna werden diesen finsteren Geist so wenig beschwören, als die Predigten
des Pater Ravignan.




Wie steht es eigentlich mit unserer Religion? Sind wir, die wir den Mantel
der christlichen Liebe von uns geworfen haben, und uns weder in das morgen- -
kurdische Gewand des modernen Hafis noch in die communistische Uniform kleiden
wollen, sind wir Nichtswüthriche und Atheisten? Oder halten wir noch fest an
den Kantischen Postulaten der reinen Vernunft, Gott, Freiheit und Uusterb- v
lichte-t. —

An die Freiheit zu glauben, haben wir nicht nöthig, denn wenn wir nicht
verschroben sind, so wissen wir in jedem Augenblick genau, wie weit wir frei find,
d. h. wieweit sich unsere Thätigkeit nach den Gesetzen unseres Denkens und Em¬
pfindens bestimmt. Wir sind frei, und können darauf stolz sein, aber wir sind
auch gebunden, gebunden durch Liebe, durch das Recht, durch das Gesetz der Na-
tur. Erst in dieser Gebundenheit wird unsere Freiheit wirklich, denn erst in ihr
können wir empfinden, genießen, denken, handeln. Wir verehren die Natur, denn
wir gehören ihr an; aber wir opfern ihr nicht unser Selbstgefühl, denn sie muß
unsern vernünftigen Fragen antworten, unserm vernünftigen Willen dienen; der
Geist steht höher als die Natur, wenn er auch nur in der Natur ist. Unser
Glaube an Gott beschränkt sich aus die Gewißheit, daß die Welt in festen Angeln
ruht, auch wenn unser Ich mit seinem Wünschen und Hoffen in Staub zerfällt.
Die Vorstellungsweise einer rohen Zeit — die religiöse —- stellt den Egoismus
dem Gesetz, die Poesie der Wirklichkeit, den Himmel der Erde gegenüber. . Unser
Egoismus realistrt sich nur im Gesetz, unsere Poesie im Leben, unser Himmel auf
der Erde. Will man die Poesie — den Glauben des Gemüths an sich selbst und
an das Große, Gute und Schöne, das aus der Natur und Geschichte in ihm wie¬
derstrahlt — will man diesen Glauben Religion nennen, so ist dagegen nichts zu
sagen, so lauge man sich nur daran erinnert, daß diese Religion in ihrem Grund¬
begriff verschieden ist von dem, was man sonst Religion nennt. Sie kennt keinen
Haß und keinen Fanatismus; eben darum aber — und das ist es, warum ich
von Danaer abweiche - bescheidet sie sich, nicht die weltbewegende Kraft des
Geistes und der Geschichte zu sein. Die Musen gehörten nie zu deu Gottheiten
des Krieges; die Leidenschaften waren ihr Gegenstand, aber nicht ihr Erzeugniß.
Die Geschichte wird bewegt durch den Conflict der Leidenschaft mit den feindlichen
Mächten; unsere Poesie hat die Aufgabe, diesen Conflict zu versöhnen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/341>, abgerufen am 21.06.2024.