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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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uns nicht verständlich ist. Physik oder Zauberei; sittliche Autonomie der Mensch¬
heit oder der Beichtstuhl, einen Mittelweg gibt es nicht.

Seit Voltaire und Kant -- der erste hat die Hexen und Gespenster durch
den einzigen Bann gezwungen, der auf sie wirkt, durch Hohngelächter, der An¬
dere hat durch das Anrufe" des Selbstgefühls dem moralischen Schacher ein Eude
gemacht, der sich jede "gute Handlung" aufnotirte, um "droben" so und so
viel Procente dafür zu gewinnen -- seit Voltaire und Kant gibt es unter den
Gebildeten keinen Gläubigen mehr in der alten Bedeutung dieses Worts. Abge¬
sehen von den Staatskünstlern, deren Maxime es ist, daß ohne eine gewisse Dosis
von Dummheit ein wohlorganistrter Staat nicht gedeihen könne, und den Ritter-
bürtigen, die ihre Religion wie andere Erbstücke ihres Hauses aufbewahren; ab¬
gesehen von den neukatholischen Socialisten, die unter der alten Firma ein neues
Stichwort des Fanatismus improvisiren möchten, trägt das neumodisch aufgeputzte,
das restaurirte Christenthum überall den Firniß überreifer moderner Bildung, den
Schleiermacher, Chateaubriand, Hegel ihm gegeben haben. Die Orthodoxen gar
nicht ausgenommen. Auch wenn sie die Nichtigkeit des menschlichen Geistes, der
Bildung und des Witzes predigen, halten sie es für unerläßlich, durch Geist,
Bildung und Witz zu imponiren. Auch wenn sie noch so jesuitisch dem Verstände
und dem natürlichen Gefühl die Entscheidung über das was Recht und Unrecht ist, ent¬
reißen, und sie einem überirdischen Wort überlassen, so schamlos ist keiner mehr, daß
er nicht wenigstens neben diesem äußerlichen Gebot auch an das Rechtsgefühl, an den
Verstand appellirte. Das gibt uns aber keine Bürgschaft dafür, daß der Jesuitismus --
die freche Verleugnung des Göttlichen im Menschen und in der Natur -- nicht
einmal wieder über die wahre Cultur hinauswnchern kann. Gegen den Wunder¬
glauben steht ein Kämpfer ein, der durch ein leichtes Schütteln seiner Waffen die
Schwärme des Nachtgefieders zerstiebt: die Naturwissenschaft; gefährlicher ist die
religiöse Unsittlichkeit, die Sophistik der Empfindungen, die jedes Urtheil verwirrt.
Der beste Bundesgenosse, den hier die gute Sache der Freiheit zu erwarten hat,
ist die wahre Poesie.

Aber eine schlechte Wahl der Waffen ist es, wenn man das feindliche Prin¬
zip in seinem eignen Sinn zu corrigiren, oder seiner Mystik eine neue Mystik ent¬
gegenzusetzen unternimmt. Beider Fehler macht sich Danaer schuldig. Er macht
es wie die Radicalen, die all ihre Gegner vernichten möchten, wenn sie nicht im
Sinn der Kreuzzeitung denken. Wer das naturfeiudliche Princip des Christen¬
thums und zwar in der sinnlichen Ausdehnung, die Danaer ihm gibt, nicht ver¬
tritt, den macht er zu einem Heuchler. Aber es liegt ganz in der Natur der
Sache, daß man über Gegenstände, die nicht eigentlich in das Gebiet des Ge¬
dankens zu fallen scheinen, nicht consequent denken mag. Manche fromme Christin
erbaut sich über Abraham, Jacob n. s. w., die einen ähnlichen Charakter, wenn
er ihr im Leben vorkäme, verabscheuen oder verachten würde. Freilich läßt sich


uns nicht verständlich ist. Physik oder Zauberei; sittliche Autonomie der Mensch¬
heit oder der Beichtstuhl, einen Mittelweg gibt es nicht.

Seit Voltaire und Kant — der erste hat die Hexen und Gespenster durch
den einzigen Bann gezwungen, der auf sie wirkt, durch Hohngelächter, der An¬
dere hat durch das Anrufe» des Selbstgefühls dem moralischen Schacher ein Eude
gemacht, der sich jede „gute Handlung" aufnotirte, um „droben" so und so
viel Procente dafür zu gewinnen — seit Voltaire und Kant gibt es unter den
Gebildeten keinen Gläubigen mehr in der alten Bedeutung dieses Worts. Abge¬
sehen von den Staatskünstlern, deren Maxime es ist, daß ohne eine gewisse Dosis
von Dummheit ein wohlorganistrter Staat nicht gedeihen könne, und den Ritter-
bürtigen, die ihre Religion wie andere Erbstücke ihres Hauses aufbewahren; ab¬
gesehen von den neukatholischen Socialisten, die unter der alten Firma ein neues
Stichwort des Fanatismus improvisiren möchten, trägt das neumodisch aufgeputzte,
das restaurirte Christenthum überall den Firniß überreifer moderner Bildung, den
Schleiermacher, Chateaubriand, Hegel ihm gegeben haben. Die Orthodoxen gar
nicht ausgenommen. Auch wenn sie die Nichtigkeit des menschlichen Geistes, der
Bildung und des Witzes predigen, halten sie es für unerläßlich, durch Geist,
Bildung und Witz zu imponiren. Auch wenn sie noch so jesuitisch dem Verstände
und dem natürlichen Gefühl die Entscheidung über das was Recht und Unrecht ist, ent¬
reißen, und sie einem überirdischen Wort überlassen, so schamlos ist keiner mehr, daß
er nicht wenigstens neben diesem äußerlichen Gebot auch an das Rechtsgefühl, an den
Verstand appellirte. Das gibt uns aber keine Bürgschaft dafür, daß der Jesuitismus —
die freche Verleugnung des Göttlichen im Menschen und in der Natur — nicht
einmal wieder über die wahre Cultur hinauswnchern kann. Gegen den Wunder¬
glauben steht ein Kämpfer ein, der durch ein leichtes Schütteln seiner Waffen die
Schwärme des Nachtgefieders zerstiebt: die Naturwissenschaft; gefährlicher ist die
religiöse Unsittlichkeit, die Sophistik der Empfindungen, die jedes Urtheil verwirrt.
Der beste Bundesgenosse, den hier die gute Sache der Freiheit zu erwarten hat,
ist die wahre Poesie.

Aber eine schlechte Wahl der Waffen ist es, wenn man das feindliche Prin¬
zip in seinem eignen Sinn zu corrigiren, oder seiner Mystik eine neue Mystik ent¬
gegenzusetzen unternimmt. Beider Fehler macht sich Danaer schuldig. Er macht
es wie die Radicalen, die all ihre Gegner vernichten möchten, wenn sie nicht im
Sinn der Kreuzzeitung denken. Wer das naturfeiudliche Princip des Christen¬
thums und zwar in der sinnlichen Ausdehnung, die Danaer ihm gibt, nicht ver¬
tritt, den macht er zu einem Heuchler. Aber es liegt ganz in der Natur der
Sache, daß man über Gegenstände, die nicht eigentlich in das Gebiet des Ge¬
dankens zu fallen scheinen, nicht consequent denken mag. Manche fromme Christin
erbaut sich über Abraham, Jacob n. s. w., die einen ähnlichen Charakter, wenn
er ihr im Leben vorkäme, verabscheuen oder verachten würde. Freilich läßt sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/336>, abgerufen am 21.06.2024.