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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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man es in seiner ersten Erscheinung nimmt, als bestimmtes historisches Ereigniß.
Am meisten versündigt man sich' an dem Christenthum, wenn man es auf seinen
ersten rohen Ausdruck reducirt, aus das neue Testament. Ich glaube, selbst die
Orthodoxen werden mit mir übereinstimmen, wenn ich Folgendes behaupte. Hätte
man einem gebildeten Heiden, z. B. Cicero oder Plinius, der nicht vom heiligen
Geist erleuchtet war, das neue Testament vorgelegt, ihm gesagt, was darin stehe,
sei das Christenthum, und er solle nun sein Gutachten darüber abgeben, so würde
er erklärt haben: "diese Bücher sind in sehr schlechtem Griechisch geschrieben und
verrathen eine sehr untergeordnete Bildungsstufe; die Erzählung ist sehr undeut¬
lich, von deu abgeschmacktesten Ammenmährchen gewürzt, von denen man noch dazu
gar nicht weiß, wie sie in den Zusammenhang gehören; die Charaktere sind ganz
farblos gehalten, man kann sich kein Bild von ihnen machen, am wenigsten ein
ideales Bild; träten mir solche Charaktere im Leben entgegen, so würde ich sie
geringschätzen. Die eingestreuten physikalischen Theorien zeigen deutlich, daß der
Verfasser von den ersten Elementen der Wissenschaft keine Ahnung hat. Was end¬
lich die moralischen Anschauungen betrifft, so werden theils sehr hohe Forderungen
gestellt, ohne irgendwie anzudeuten, wie mau sie erfüllen soll, -theils wieder eine
unbegreifliche Nachsicht selbst gegen das Laster geübt. Ans keinen Fall läßt sich
ein sittliches Lehrgebäude daraus entnehmen, denn die Znsammenhanglosigkeit ist
so groß, daß man kaum nöthig hat, von Widersprüchen zu reden. Das schlimmste
aber ist, daß jeder Sinn für Schönheit und menschliche Würde fehlt/' So würde
Cicero urtheilen, wenn sich seine Kenntniß des Christenthums auf das neue Te¬
stament beschränkte; ganz anders nach einem Studium der gesammten christlichen
Literatur und der christlichen Geschichte.

Die eigentliche Entstehung des Christenthums, d. h. die Zeit, wo es ein welthisto¬
risches Moment wurde, fällt in das dritte und vierte Jahrhundert der christlichen Zeit¬
rechnung. Das Christenthum ist ein Product der Verzweiflung der alten Welt an
sich selber. Die Idee, daß die Erde ein Jammerthal sei, ihre Weisheit eine
Lüge, und der Mensch ein Schwächling, der durch eigene Kraft nicht zu sich selbst
kommen.könne -- diese Idee war damals keine blos speculative Spielerei,
sondern eine sehr bittere Wahrheit. Die Welt mußte nach einem äußern Haken
greifen, und fand diesen im Christenthum, das jene Idee durch die zweite er¬
gänzte: aber es gibt eine Existenz, die nicht Elend, Lüge und Schwäche ist; das
ist der Gott, der sich offenbart hat; das Reich des Geistes, das kommen soll, und
die Inbrunst des Glaubens, die zu ihm führt. Alle anderen Lehren des Christen¬
thums waren Nebensache, jeder einzelne Denker bildete sie auf seine Weise ans,
nach den Voraussetzungen seiner Bildung und seiner Empfindung.

Die alte Welt war so siech und elend, daß nur eine gewaltige Krisis sie
retten konnte. Das Christenthum war dieser Fieberschauer, vor dem man sich ent¬
setzen mag, dessen Gewalt zu bewundern man aber, nicht umhin kann. Nachdem


man es in seiner ersten Erscheinung nimmt, als bestimmtes historisches Ereigniß.
Am meisten versündigt man sich' an dem Christenthum, wenn man es auf seinen
ersten rohen Ausdruck reducirt, aus das neue Testament. Ich glaube, selbst die
Orthodoxen werden mit mir übereinstimmen, wenn ich Folgendes behaupte. Hätte
man einem gebildeten Heiden, z. B. Cicero oder Plinius, der nicht vom heiligen
Geist erleuchtet war, das neue Testament vorgelegt, ihm gesagt, was darin stehe,
sei das Christenthum, und er solle nun sein Gutachten darüber abgeben, so würde
er erklärt haben: „diese Bücher sind in sehr schlechtem Griechisch geschrieben und
verrathen eine sehr untergeordnete Bildungsstufe; die Erzählung ist sehr undeut¬
lich, von deu abgeschmacktesten Ammenmährchen gewürzt, von denen man noch dazu
gar nicht weiß, wie sie in den Zusammenhang gehören; die Charaktere sind ganz
farblos gehalten, man kann sich kein Bild von ihnen machen, am wenigsten ein
ideales Bild; träten mir solche Charaktere im Leben entgegen, so würde ich sie
geringschätzen. Die eingestreuten physikalischen Theorien zeigen deutlich, daß der
Verfasser von den ersten Elementen der Wissenschaft keine Ahnung hat. Was end¬
lich die moralischen Anschauungen betrifft, so werden theils sehr hohe Forderungen
gestellt, ohne irgendwie anzudeuten, wie mau sie erfüllen soll, -theils wieder eine
unbegreifliche Nachsicht selbst gegen das Laster geübt. Ans keinen Fall läßt sich
ein sittliches Lehrgebäude daraus entnehmen, denn die Znsammenhanglosigkeit ist
so groß, daß man kaum nöthig hat, von Widersprüchen zu reden. Das schlimmste
aber ist, daß jeder Sinn für Schönheit und menschliche Würde fehlt/' So würde
Cicero urtheilen, wenn sich seine Kenntniß des Christenthums auf das neue Te¬
stament beschränkte; ganz anders nach einem Studium der gesammten christlichen
Literatur und der christlichen Geschichte.

Die eigentliche Entstehung des Christenthums, d. h. die Zeit, wo es ein welthisto¬
risches Moment wurde, fällt in das dritte und vierte Jahrhundert der christlichen Zeit¬
rechnung. Das Christenthum ist ein Product der Verzweiflung der alten Welt an
sich selber. Die Idee, daß die Erde ein Jammerthal sei, ihre Weisheit eine
Lüge, und der Mensch ein Schwächling, der durch eigene Kraft nicht zu sich selbst
kommen.könne — diese Idee war damals keine blos speculative Spielerei,
sondern eine sehr bittere Wahrheit. Die Welt mußte nach einem äußern Haken
greifen, und fand diesen im Christenthum, das jene Idee durch die zweite er¬
gänzte: aber es gibt eine Existenz, die nicht Elend, Lüge und Schwäche ist; das
ist der Gott, der sich offenbart hat; das Reich des Geistes, das kommen soll, und
die Inbrunst des Glaubens, die zu ihm führt. Alle anderen Lehren des Christen¬
thums waren Nebensache, jeder einzelne Denker bildete sie auf seine Weise ans,
nach den Voraussetzungen seiner Bildung und seiner Empfindung.

Die alte Welt war so siech und elend, daß nur eine gewaltige Krisis sie
retten konnte. Das Christenthum war dieser Fieberschauer, vor dem man sich ent¬
setzen mag, dessen Gewalt zu bewundern man aber, nicht umhin kann. Nachdem


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[0334] man es in seiner ersten Erscheinung nimmt, als bestimmtes historisches Ereigniß. Am meisten versündigt man sich' an dem Christenthum, wenn man es auf seinen ersten rohen Ausdruck reducirt, aus das neue Testament. Ich glaube, selbst die Orthodoxen werden mit mir übereinstimmen, wenn ich Folgendes behaupte. Hätte man einem gebildeten Heiden, z. B. Cicero oder Plinius, der nicht vom heiligen Geist erleuchtet war, das neue Testament vorgelegt, ihm gesagt, was darin stehe, sei das Christenthum, und er solle nun sein Gutachten darüber abgeben, so würde er erklärt haben: „diese Bücher sind in sehr schlechtem Griechisch geschrieben und verrathen eine sehr untergeordnete Bildungsstufe; die Erzählung ist sehr undeut¬ lich, von deu abgeschmacktesten Ammenmährchen gewürzt, von denen man noch dazu gar nicht weiß, wie sie in den Zusammenhang gehören; die Charaktere sind ganz farblos gehalten, man kann sich kein Bild von ihnen machen, am wenigsten ein ideales Bild; träten mir solche Charaktere im Leben entgegen, so würde ich sie geringschätzen. Die eingestreuten physikalischen Theorien zeigen deutlich, daß der Verfasser von den ersten Elementen der Wissenschaft keine Ahnung hat. Was end¬ lich die moralischen Anschauungen betrifft, so werden theils sehr hohe Forderungen gestellt, ohne irgendwie anzudeuten, wie mau sie erfüllen soll, -theils wieder eine unbegreifliche Nachsicht selbst gegen das Laster geübt. Ans keinen Fall läßt sich ein sittliches Lehrgebäude daraus entnehmen, denn die Znsammenhanglosigkeit ist so groß, daß man kaum nöthig hat, von Widersprüchen zu reden. Das schlimmste aber ist, daß jeder Sinn für Schönheit und menschliche Würde fehlt/' So würde Cicero urtheilen, wenn sich seine Kenntniß des Christenthums auf das neue Te¬ stament beschränkte; ganz anders nach einem Studium der gesammten christlichen Literatur und der christlichen Geschichte. Die eigentliche Entstehung des Christenthums, d. h. die Zeit, wo es ein welthisto¬ risches Moment wurde, fällt in das dritte und vierte Jahrhundert der christlichen Zeit¬ rechnung. Das Christenthum ist ein Product der Verzweiflung der alten Welt an sich selber. Die Idee, daß die Erde ein Jammerthal sei, ihre Weisheit eine Lüge, und der Mensch ein Schwächling, der durch eigene Kraft nicht zu sich selbst kommen.könne — diese Idee war damals keine blos speculative Spielerei, sondern eine sehr bittere Wahrheit. Die Welt mußte nach einem äußern Haken greifen, und fand diesen im Christenthum, das jene Idee durch die zweite er¬ gänzte: aber es gibt eine Existenz, die nicht Elend, Lüge und Schwäche ist; das ist der Gott, der sich offenbart hat; das Reich des Geistes, das kommen soll, und die Inbrunst des Glaubens, die zu ihm führt. Alle anderen Lehren des Christen¬ thums waren Nebensache, jeder einzelne Denker bildete sie auf seine Weise ans, nach den Voraussetzungen seiner Bildung und seiner Empfindung. Die alte Welt war so siech und elend, daß nur eine gewaltige Krisis sie retten konnte. Das Christenthum war dieser Fieberschauer, vor dem man sich ent¬ setzen mag, dessen Gewalt zu bewundern man aber, nicht umhin kann. Nachdem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/334>, abgerufen am 21.06.2024.