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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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würfe ebenso bedingt zu'nehmen, wie die der conservativen Partei gegen die Ra-
dicalen. Eine rein destructive Existenz ist unmöglich. Auch der Kampf gegen die
Sinnlichkeit muß sich zuletzt sinnlicher Mittel bedienen -- aus den Schrcckensbil-
dern der Märtyrer wurden die Kunstwerke des 16. Jahrhunderts, ans der Pole¬
mik gegen das heidnische Denken ein neues System des Gedankens -- auch der
Haß gegen die bisher giltige Sittlichkett muß sich auf sittliche Momente stützen.
Wenn das Christenthum im Lauf der Zeit immer mehr aus seinen Abstractionen
heraustritt, immer vollere Bestimmungen gewinnt, ein immer reicheres Leben,
Fühlen und Denken entfaltet, so ist das nicht blos eine Aufklärung, die ihm von
Außen her kommt, sondern ein dialektischer Proceß seines innern Wesens.

Gerade dieser innere Widerspruch in seinem Wesen ist es, was das Christen¬
thum zu der geschichtlichen Religion gemacht hat, die der Islam mit seinen aller¬
dings sehr handgreiflichen und einfachen Lehren nicht geworden ist. Ich will hier
nur die eine Seite andeuten. Das Christenthum hat am tiefsten, wenn mich nicht
am wahrsten, den Begriff der Sünde gefaßt. Zu allen seineu Richtungen hat
man in den Abgrund des menschlichen Geistes gegraben, mit großer Verachtung
gegen die seelenlose Natur. Daraus sind freilich viel absurde Lehrgebäude her¬
vorgegangen, in den Kirchenvätern, den Scholastikern, den Casnisten; aber es ist
auch in das Denken und Empfinden eine Stärke und eine Fülle gekommen, die
einen Luther, Calvin, Shakespeare, Pascal, Kant, Göthe u. s. w. möglich ge¬
macht hat. Diese höhere Poesie des Denkens ist dem Heidenthum wie dem Islam
fremd geblieben; sie ist nicht trotz des Christenthums, sondern dnrch das Christen¬
thum möglich geworden, und was dem Denken an Klarheit abging, ist der Poesie
zu Gute gekommen.

Was nun Danaer betrifft, so geht seine Construction der christlichen Ge¬
schichte, wenn wir von der sogenannten philologisch-kritischen Deduction, die keinen
Schuß Pulver werth ist, absehn, von einem Gedanken aus, der an sich ganz rich¬
tig, aber bei einer bestimmten historischen Erscheinung falsch angewendet ist, von
dem Gedanken nämlich, daß ein Symbol stets eine frühere Realität voraussetzt.
Der rothe Faden, der sich durch die christlichen Vorstellungen zieht, ist die Lehre,
daß der Mensch sich Gott opfern müsse. Taufe, Priesterweihe, klösterliche Gelübde
u. s. w. sind Symbole für diese Idee. Nun meint Danaer, diese symbolische
Opferung setze eine reale Thatsache voraus, welche das eigentliche Geheimniß der
christlichen Mysterien gewesen sei. Er vergißt aber, daß der Grundcharakter der
Zeit, in welcher das Christenthum entstand, keineswegs der Drang nach bestimmten'
Thaten war, sondern ein mystisches Brüten über Spuren ehemaliger Thätigkeit
und über Speculationen, für welche man den Faden verloren hatte. Die Unpro-
ductivität des Zeitalters in eigentlich realer Thätigkeit bedingte die religiöse Pro-
duction, die reine Symbolik.

Von.diesem Gesichtspunkt aus muß man das Christenthum auffassen, wenn


würfe ebenso bedingt zu'nehmen, wie die der conservativen Partei gegen die Ra-
dicalen. Eine rein destructive Existenz ist unmöglich. Auch der Kampf gegen die
Sinnlichkeit muß sich zuletzt sinnlicher Mittel bedienen — aus den Schrcckensbil-
dern der Märtyrer wurden die Kunstwerke des 16. Jahrhunderts, ans der Pole¬
mik gegen das heidnische Denken ein neues System des Gedankens — auch der
Haß gegen die bisher giltige Sittlichkett muß sich auf sittliche Momente stützen.
Wenn das Christenthum im Lauf der Zeit immer mehr aus seinen Abstractionen
heraustritt, immer vollere Bestimmungen gewinnt, ein immer reicheres Leben,
Fühlen und Denken entfaltet, so ist das nicht blos eine Aufklärung, die ihm von
Außen her kommt, sondern ein dialektischer Proceß seines innern Wesens.

Gerade dieser innere Widerspruch in seinem Wesen ist es, was das Christen¬
thum zu der geschichtlichen Religion gemacht hat, die der Islam mit seinen aller¬
dings sehr handgreiflichen und einfachen Lehren nicht geworden ist. Ich will hier
nur die eine Seite andeuten. Das Christenthum hat am tiefsten, wenn mich nicht
am wahrsten, den Begriff der Sünde gefaßt. Zu allen seineu Richtungen hat
man in den Abgrund des menschlichen Geistes gegraben, mit großer Verachtung
gegen die seelenlose Natur. Daraus sind freilich viel absurde Lehrgebäude her¬
vorgegangen, in den Kirchenvätern, den Scholastikern, den Casnisten; aber es ist
auch in das Denken und Empfinden eine Stärke und eine Fülle gekommen, die
einen Luther, Calvin, Shakespeare, Pascal, Kant, Göthe u. s. w. möglich ge¬
macht hat. Diese höhere Poesie des Denkens ist dem Heidenthum wie dem Islam
fremd geblieben; sie ist nicht trotz des Christenthums, sondern dnrch das Christen¬
thum möglich geworden, und was dem Denken an Klarheit abging, ist der Poesie
zu Gute gekommen.

Was nun Danaer betrifft, so geht seine Construction der christlichen Ge¬
schichte, wenn wir von der sogenannten philologisch-kritischen Deduction, die keinen
Schuß Pulver werth ist, absehn, von einem Gedanken aus, der an sich ganz rich¬
tig, aber bei einer bestimmten historischen Erscheinung falsch angewendet ist, von
dem Gedanken nämlich, daß ein Symbol stets eine frühere Realität voraussetzt.
Der rothe Faden, der sich durch die christlichen Vorstellungen zieht, ist die Lehre,
daß der Mensch sich Gott opfern müsse. Taufe, Priesterweihe, klösterliche Gelübde
u. s. w. sind Symbole für diese Idee. Nun meint Danaer, diese symbolische
Opferung setze eine reale Thatsache voraus, welche das eigentliche Geheimniß der
christlichen Mysterien gewesen sei. Er vergißt aber, daß der Grundcharakter der
Zeit, in welcher das Christenthum entstand, keineswegs der Drang nach bestimmten'
Thaten war, sondern ein mystisches Brüten über Spuren ehemaliger Thätigkeit
und über Speculationen, für welche man den Faden verloren hatte. Die Unpro-
ductivität des Zeitalters in eigentlich realer Thätigkeit bedingte die religiöse Pro-
duction, die reine Symbolik.

Von.diesem Gesichtspunkt aus muß man das Christenthum auffassen, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/333>, abgerufen am 21.06.2024.