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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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spruchloseste Genüge geben, daß sie die ganze Menschheit in der friedlichen Ein¬
heit eines allgemeinen Reiches umfassen, all ihr Unglück, ihre Klagen in Glück und
Jubel verwandeln und wohl von einer Stufe der Vollkommenheit zur andern ge¬
bracht, nimmermehr aber negirt werden wird." -- Die alte Leier!

Zu dieser neuen Religion soll Danaer's neuestes Werk: "Die Religion des
neuen Weltalters" als Grundlage, gleichsam als Testament dienen.

Unsere Kritik hat sich auf zwei Punkte zu richten: einmal ans seine Polemik
gegen das sogenannte naturfcindliche Princip, dann auf das Evangelium, das
an dessen Stelle kommen soll.




Wenn die neue Kritik im Wesen des Christenthums das natnrfeindliche
Princip erkennt, welches der Rationalismus nur in den Entstellungen desselben
finden wollte, so ist sie darin jedenfalls tiefer und wahrer. Der Idealismus des
Christenthums ist der Natur entgegengesetzt, sein Himmel das Gegentheil der Erde,
sein allmächtiger Gott die Verleugnung des Naturgesetzes, seine Geschichte die
Verachtung menschlicher Kraft, seine Moral ein unerbittlicher Krieg gegen Alles,
was dem natürlichen Menschen ins Herz gewachsen ist. -- Allein die neueren Kritiker
fehlen nach einer andern Seite hin. Indem sie nach den Gesetzen ihres eignen ge¬
schulten Denkens die Consequenzen jenes Princips ziehn, und dieselbe" in . dem
Gesammtinhalt des Christenthums wiederzufinden meinen, runden sie der Offen¬
barung, der Vision, der Verzückung, der Schwärmerei eine Eigenschaft zu, die
ihnen unter allen am wenigsten zukommt: eben die Consequenz. Freilich verwirft
der neue Glaube, der den ganzen Menschen absorbiren will, die sittlichen Gebote,
welche sich stets auf endliche Verhältnisse beziehn. Weib, was habe ich mit dir zu
schaffen! ruft der gotterfüllte Sohn seiner Mutter zu. Ich bin gekommen, den
Bruder gegen den Bruder zu kehren u. s. w. Lasset die Todten die Todten be¬
graben. -- Das alles ist, vom Standpunkt der alten Sittlichkeit aus betrachtet,
so ruchlos als möglich; aber mau würde irren, wenn man nnn ans dem Christen¬
thum alle Familienpietät streichen wollte. Der sterbende Christus empfiehlt die
Mutter seinem Lieblingsjünger, und so finden sich schon in den ursprünglichen hei¬
ligen Büchern Züge genug, die auf eine theilweise Rehabilitation des vierten Ge¬
bots hindeuten. So wird es dem Rationalisten wie dem Supranatnralisteu sehr
leicht, für jede, auch die entgegengesetzte Ansicht, Belegstellen ans dem neuen Te¬
stament zu finden. Freilich kommt es dann immer daraus an, auf welcher Seite
das eigentlich charakteristische Moment liegt, d. h. dasjenige Moment, in welchem
sich das Christenthum von der natürlichen, d. h. heidnischen Empfindungsweise
unterscheidet.

Wenn also die neue Kritik in dem Christenthum nur die geistige Abstraction,
also eigentlich eine rein zerstörende, negirende Thätigkeit findet, so sind, diese Vor-


spruchloseste Genüge geben, daß sie die ganze Menschheit in der friedlichen Ein¬
heit eines allgemeinen Reiches umfassen, all ihr Unglück, ihre Klagen in Glück und
Jubel verwandeln und wohl von einer Stufe der Vollkommenheit zur andern ge¬
bracht, nimmermehr aber negirt werden wird." — Die alte Leier!

Zu dieser neuen Religion soll Danaer's neuestes Werk: „Die Religion des
neuen Weltalters" als Grundlage, gleichsam als Testament dienen.

Unsere Kritik hat sich auf zwei Punkte zu richten: einmal ans seine Polemik
gegen das sogenannte naturfcindliche Princip, dann auf das Evangelium, das
an dessen Stelle kommen soll.




Wenn die neue Kritik im Wesen des Christenthums das natnrfeindliche
Princip erkennt, welches der Rationalismus nur in den Entstellungen desselben
finden wollte, so ist sie darin jedenfalls tiefer und wahrer. Der Idealismus des
Christenthums ist der Natur entgegengesetzt, sein Himmel das Gegentheil der Erde,
sein allmächtiger Gott die Verleugnung des Naturgesetzes, seine Geschichte die
Verachtung menschlicher Kraft, seine Moral ein unerbittlicher Krieg gegen Alles,
was dem natürlichen Menschen ins Herz gewachsen ist. — Allein die neueren Kritiker
fehlen nach einer andern Seite hin. Indem sie nach den Gesetzen ihres eignen ge¬
schulten Denkens die Consequenzen jenes Princips ziehn, und dieselbe» in . dem
Gesammtinhalt des Christenthums wiederzufinden meinen, runden sie der Offen¬
barung, der Vision, der Verzückung, der Schwärmerei eine Eigenschaft zu, die
ihnen unter allen am wenigsten zukommt: eben die Consequenz. Freilich verwirft
der neue Glaube, der den ganzen Menschen absorbiren will, die sittlichen Gebote,
welche sich stets auf endliche Verhältnisse beziehn. Weib, was habe ich mit dir zu
schaffen! ruft der gotterfüllte Sohn seiner Mutter zu. Ich bin gekommen, den
Bruder gegen den Bruder zu kehren u. s. w. Lasset die Todten die Todten be¬
graben. — Das alles ist, vom Standpunkt der alten Sittlichkeit aus betrachtet,
so ruchlos als möglich; aber mau würde irren, wenn man nnn ans dem Christen¬
thum alle Familienpietät streichen wollte. Der sterbende Christus empfiehlt die
Mutter seinem Lieblingsjünger, und so finden sich schon in den ursprünglichen hei¬
ligen Büchern Züge genug, die auf eine theilweise Rehabilitation des vierten Ge¬
bots hindeuten. So wird es dem Rationalisten wie dem Supranatnralisteu sehr
leicht, für jede, auch die entgegengesetzte Ansicht, Belegstellen ans dem neuen Te¬
stament zu finden. Freilich kommt es dann immer daraus an, auf welcher Seite
das eigentlich charakteristische Moment liegt, d. h. dasjenige Moment, in welchem
sich das Christenthum von der natürlichen, d. h. heidnischen Empfindungsweise
unterscheidet.

Wenn also die neue Kritik in dem Christenthum nur die geistige Abstraction,
also eigentlich eine rein zerstörende, negirende Thätigkeit findet, so sind, diese Vor-


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[0332] spruchloseste Genüge geben, daß sie die ganze Menschheit in der friedlichen Ein¬ heit eines allgemeinen Reiches umfassen, all ihr Unglück, ihre Klagen in Glück und Jubel verwandeln und wohl von einer Stufe der Vollkommenheit zur andern ge¬ bracht, nimmermehr aber negirt werden wird." — Die alte Leier! Zu dieser neuen Religion soll Danaer's neuestes Werk: „Die Religion des neuen Weltalters" als Grundlage, gleichsam als Testament dienen. Unsere Kritik hat sich auf zwei Punkte zu richten: einmal ans seine Polemik gegen das sogenannte naturfcindliche Princip, dann auf das Evangelium, das an dessen Stelle kommen soll. Wenn die neue Kritik im Wesen des Christenthums das natnrfeindliche Princip erkennt, welches der Rationalismus nur in den Entstellungen desselben finden wollte, so ist sie darin jedenfalls tiefer und wahrer. Der Idealismus des Christenthums ist der Natur entgegengesetzt, sein Himmel das Gegentheil der Erde, sein allmächtiger Gott die Verleugnung des Naturgesetzes, seine Geschichte die Verachtung menschlicher Kraft, seine Moral ein unerbittlicher Krieg gegen Alles, was dem natürlichen Menschen ins Herz gewachsen ist. — Allein die neueren Kritiker fehlen nach einer andern Seite hin. Indem sie nach den Gesetzen ihres eignen ge¬ schulten Denkens die Consequenzen jenes Princips ziehn, und dieselbe» in . dem Gesammtinhalt des Christenthums wiederzufinden meinen, runden sie der Offen¬ barung, der Vision, der Verzückung, der Schwärmerei eine Eigenschaft zu, die ihnen unter allen am wenigsten zukommt: eben die Consequenz. Freilich verwirft der neue Glaube, der den ganzen Menschen absorbiren will, die sittlichen Gebote, welche sich stets auf endliche Verhältnisse beziehn. Weib, was habe ich mit dir zu schaffen! ruft der gotterfüllte Sohn seiner Mutter zu. Ich bin gekommen, den Bruder gegen den Bruder zu kehren u. s. w. Lasset die Todten die Todten be¬ graben. — Das alles ist, vom Standpunkt der alten Sittlichkeit aus betrachtet, so ruchlos als möglich; aber mau würde irren, wenn man nnn ans dem Christen¬ thum alle Familienpietät streichen wollte. Der sterbende Christus empfiehlt die Mutter seinem Lieblingsjünger, und so finden sich schon in den ursprünglichen hei¬ ligen Büchern Züge genug, die auf eine theilweise Rehabilitation des vierten Ge¬ bots hindeuten. So wird es dem Rationalisten wie dem Supranatnralisteu sehr leicht, für jede, auch die entgegengesetzte Ansicht, Belegstellen ans dem neuen Te¬ stament zu finden. Freilich kommt es dann immer daraus an, auf welcher Seite das eigentlich charakteristische Moment liegt, d. h. dasjenige Moment, in welchem sich das Christenthum von der natürlichen, d. h. heidnischen Empfindungsweise unterscheidet. Wenn also die neue Kritik in dem Christenthum nur die geistige Abstraction, also eigentlich eine rein zerstörende, negirende Thätigkeit findet, so sind, diese Vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/332>, abgerufen am 21.06.2024.