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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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schen Geschosse; Schildwachen und Verlorne Posten pflegten dann, in den Pausen
des Geschützdonners, einem wunderbaren Gesänge zu lauschen, der "sie die Nähe
der Gefahr vergessen machte. Unter den Kroaten verbreitete sich die Sage von
einer Wila, welche Krankheiten ins Lager herabsinge. Am Abend nach dem Einzug
der Oestreicher führte sie den greisen Oberst in ihre frühere Wohnung, die noch
leer stand; Dach und Balkon waren zerschossen. Sie zeigte ihm die Säle
und Familienporträts; das ihres Mannes kehrte sie um, mit dem Gesichte gegen
die Mauer. Als jedoch der Halbmond über San Marko hinschwamm, schlich sie
auf den Zehen durch das Zimmer, wo der Oberst schlief, küßte seine Hand und
trat, sich bekreuzend, auf den Balkon. Die Fluth rauschte auf -- die unschuldige
Syrene hatte ihr unterjochtes Vaterland und die Welt in aller Stille verlassen. --
T. schloß sich einem Gefangenentransport an, der nach Wien ging. Dort erst
erholte er sich von seiner Todesangst und gewann seine vornehme Haltung wieder.
Er hat neulich eine zweideutige Mission nach dem Ausland erhalten.




Der k. k. Unterrichtsminister Leo Graf Thun.



Die neue Zeit in Oestreich hat sich als sehr gefräßig bewiesen, sie hat alte
Celebritäten verschlungen und vernichtet, sie hat bei einigen bewiesen, daß es oft
viel leichter sei, die Freiheit in der Theorie zu vertreten, als mit festem Arm in
geregelte Bahnen zu leiten. Wohin Freiheitsliebe mit Nachgiebigkeit gegen Über¬
schwengliches führt, haben wir in Wien gesehn, es führt zum Kanonen- und
Bajonnettregiment, zu einer Marktverfassung.

Auch Böhmen zählt eine Notabilität, welche in jenem verhängnißvollen Jahre
1848 unterging, um jedoch im Jahre 49 wieder aufzutauchen, während andere
Untergegangene wenig Chancen haben, jemals wieder emporzukommen aus den
Fluthen des Mißkredits; dies ist Graf Leo Thun, derzeit Münster des Unterrichts
und Cultus.

Ihm war das eigenthümliche Loos beschieden, eine Zeit lang gar keine Partei
für sich zu haben, von zwei sich gegenüberstehenden Parteien gleichzeitig für einen
Verräther erklärt, von der Regierung in Wien desavouirt und des Amtes entsetzt
zu werden, also nicht zwischen zwei, sondern sogar zwischen drei Stühlen zu sitzen
und dennoch von keiner Partei richtig, von keiner gerecht beurtheilt zu sei".

Wir wollen es versuchen, gegen diesen Mann gerecht zu sein, seine Schwächen,
doch nein, Schwächen hat er nicht, wohl aber Fehler, wie seine Tugenden gleich
parteilos zu beurtheilen; er ist jedenfalls eine interessante Erscheinung und seine
Schilderung aller Sorgfalt werth. Wir zweifeln mit Grund, ob Oestreichs


Grenzboten. i. 18S0. 4

schen Geschosse; Schildwachen und Verlorne Posten pflegten dann, in den Pausen
des Geschützdonners, einem wunderbaren Gesänge zu lauschen, der «sie die Nähe
der Gefahr vergessen machte. Unter den Kroaten verbreitete sich die Sage von
einer Wila, welche Krankheiten ins Lager herabsinge. Am Abend nach dem Einzug
der Oestreicher führte sie den greisen Oberst in ihre frühere Wohnung, die noch
leer stand; Dach und Balkon waren zerschossen. Sie zeigte ihm die Säle
und Familienporträts; das ihres Mannes kehrte sie um, mit dem Gesichte gegen
die Mauer. Als jedoch der Halbmond über San Marko hinschwamm, schlich sie
auf den Zehen durch das Zimmer, wo der Oberst schlief, küßte seine Hand und
trat, sich bekreuzend, auf den Balkon. Die Fluth rauschte auf — die unschuldige
Syrene hatte ihr unterjochtes Vaterland und die Welt in aller Stille verlassen. —
T. schloß sich einem Gefangenentransport an, der nach Wien ging. Dort erst
erholte er sich von seiner Todesangst und gewann seine vornehme Haltung wieder.
Er hat neulich eine zweideutige Mission nach dem Ausland erhalten.




Der k. k. Unterrichtsminister Leo Graf Thun.



Die neue Zeit in Oestreich hat sich als sehr gefräßig bewiesen, sie hat alte
Celebritäten verschlungen und vernichtet, sie hat bei einigen bewiesen, daß es oft
viel leichter sei, die Freiheit in der Theorie zu vertreten, als mit festem Arm in
geregelte Bahnen zu leiten. Wohin Freiheitsliebe mit Nachgiebigkeit gegen Über¬
schwengliches führt, haben wir in Wien gesehn, es führt zum Kanonen- und
Bajonnettregiment, zu einer Marktverfassung.

Auch Böhmen zählt eine Notabilität, welche in jenem verhängnißvollen Jahre
1848 unterging, um jedoch im Jahre 49 wieder aufzutauchen, während andere
Untergegangene wenig Chancen haben, jemals wieder emporzukommen aus den
Fluthen des Mißkredits; dies ist Graf Leo Thun, derzeit Münster des Unterrichts
und Cultus.

Ihm war das eigenthümliche Loos beschieden, eine Zeit lang gar keine Partei
für sich zu haben, von zwei sich gegenüberstehenden Parteien gleichzeitig für einen
Verräther erklärt, von der Regierung in Wien desavouirt und des Amtes entsetzt
zu werden, also nicht zwischen zwei, sondern sogar zwischen drei Stühlen zu sitzen
und dennoch von keiner Partei richtig, von keiner gerecht beurtheilt zu sei«.

Wir wollen es versuchen, gegen diesen Mann gerecht zu sein, seine Schwächen,
doch nein, Schwächen hat er nicht, wohl aber Fehler, wie seine Tugenden gleich
parteilos zu beurtheilen; er ist jedenfalls eine interessante Erscheinung und seine
Schilderung aller Sorgfalt werth. Wir zweifeln mit Grund, ob Oestreichs


Grenzboten. i. 18S0. 4
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[0033] schen Geschosse; Schildwachen und Verlorne Posten pflegten dann, in den Pausen des Geschützdonners, einem wunderbaren Gesänge zu lauschen, der «sie die Nähe der Gefahr vergessen machte. Unter den Kroaten verbreitete sich die Sage von einer Wila, welche Krankheiten ins Lager herabsinge. Am Abend nach dem Einzug der Oestreicher führte sie den greisen Oberst in ihre frühere Wohnung, die noch leer stand; Dach und Balkon waren zerschossen. Sie zeigte ihm die Säle und Familienporträts; das ihres Mannes kehrte sie um, mit dem Gesichte gegen die Mauer. Als jedoch der Halbmond über San Marko hinschwamm, schlich sie auf den Zehen durch das Zimmer, wo der Oberst schlief, küßte seine Hand und trat, sich bekreuzend, auf den Balkon. Die Fluth rauschte auf — die unschuldige Syrene hatte ihr unterjochtes Vaterland und die Welt in aller Stille verlassen. — T. schloß sich einem Gefangenentransport an, der nach Wien ging. Dort erst erholte er sich von seiner Todesangst und gewann seine vornehme Haltung wieder. Er hat neulich eine zweideutige Mission nach dem Ausland erhalten. Der k. k. Unterrichtsminister Leo Graf Thun. Die neue Zeit in Oestreich hat sich als sehr gefräßig bewiesen, sie hat alte Celebritäten verschlungen und vernichtet, sie hat bei einigen bewiesen, daß es oft viel leichter sei, die Freiheit in der Theorie zu vertreten, als mit festem Arm in geregelte Bahnen zu leiten. Wohin Freiheitsliebe mit Nachgiebigkeit gegen Über¬ schwengliches führt, haben wir in Wien gesehn, es führt zum Kanonen- und Bajonnettregiment, zu einer Marktverfassung. Auch Böhmen zählt eine Notabilität, welche in jenem verhängnißvollen Jahre 1848 unterging, um jedoch im Jahre 49 wieder aufzutauchen, während andere Untergegangene wenig Chancen haben, jemals wieder emporzukommen aus den Fluthen des Mißkredits; dies ist Graf Leo Thun, derzeit Münster des Unterrichts und Cultus. Ihm war das eigenthümliche Loos beschieden, eine Zeit lang gar keine Partei für sich zu haben, von zwei sich gegenüberstehenden Parteien gleichzeitig für einen Verräther erklärt, von der Regierung in Wien desavouirt und des Amtes entsetzt zu werden, also nicht zwischen zwei, sondern sogar zwischen drei Stühlen zu sitzen und dennoch von keiner Partei richtig, von keiner gerecht beurtheilt zu sei«. Wir wollen es versuchen, gegen diesen Mann gerecht zu sein, seine Schwächen, doch nein, Schwächen hat er nicht, wohl aber Fehler, wie seine Tugenden gleich parteilos zu beurtheilen; er ist jedenfalls eine interessante Erscheinung und seine Schilderung aller Sorgfalt werth. Wir zweifeln mit Grund, ob Oestreichs Grenzboten. i. 18S0. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/33>, abgerufen am 20.06.2024.