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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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denn er übersteht seine Position von allen Seiten mit völliger Freiheit. Bei
Waldeck's Vertheidigung ist man immer ängstlich: wird nicht jetzt irgend ein Punkt
kommen, wo man ihn fassen kann! Seine Vertheidigung ist keine Totalität, sie hält
sich immer nur im Detail; sie ist kein Kunstwerk, sie macht wohl den Eindruck
der Wahrheit, aber nicht der vollen Wahrheit.

Ich habe in Ihrer Zeitschrift noch in den Tagen der Revolution (1848, Heft 37)
eine Charakteristik von Jacoby geliefert, die sich nachher in manchen Punkten be¬
stätigt hat. Ich machte Sie damals z. B. aus das Seutentiöse in seiner Polemik
aufmerksam. Die bekannte Novcmbergeschichte, die er mit dem König hatte, sein
Ausruf: ,,Das ist eben das Unglück der Könige, daß sie nicht-die Wahrheit hö¬
ren wollen," wurde damals nur von dem einen Gesichtspunkt aufgefaßt, als un-
motivirte Grobheit; sie ging aber eigentlich aus dem Bedürfniß hervor, die Si¬
tuation zu einer Sentenz abzuklären. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die
neueste Haltung der Demokratie, die reine Negation, seiner Natur so recht zu¬
sagt; er ist uun ganz in seinem Recht. Ich glaube nicht, daß Waldeck mit seiner
bei Weitem größeren Productivität sich in der neuen Rolle wohlgefällt. -- Viel¬
leicht werden schon die nächsten Wahlen (die preußischen nämlich) in die Demo¬
kratie einen Riß machen. Die Verfassung ist nun einmal da, ob die Demokraten
sie anerkennen oder nicht, sie wird gegen sie angewendet. Zuletzt werdeu Dieje¬
nigen unter ihnen, die einen Trieb nach unmittelbarer Wirksamkeit fühlen, es doch
für nützlicher halten, sich zu betheiligen. Andere, die abstrakten Juristen, werden
ihren RechtSl'oden bewahren wollen. Ein Scheidungsprozeß, der anch in unserer
eigenen Partei vor sich gehen wird.




Das schwarze Buch in Warschau.



Die geheime Polizei ist im russischen Reiche so weit verbreitet, als die Fänge
des Doppelaars reichen, und gewisse zarte Spuren davon finden sich sogar in den
isolirten Flächen Sibiriens. Aber nirgend hat sie eine so feine und raffinirte Or¬
ganisation gewonnen wie in dem Großsürstenthum Litthauen und dem Königreich
Polen. Da sind eine Menge hohe Staatschargen ausschließlich in diesem saubern
Theile der Regierung beschäftigt; besondere Aemter, in verschiedenen Aemtern be¬
sondere Bureaus, sitzende und reisende Beamte, gewisse Truppenabtheilungen"
z. B. die Gensdarmerie, wo man keine Person aufnimmt, ohne sie eiuer genauen
Prüfung unterworfen zu haben. Das Heer der geheimen Diener vom Civil ist aber
so stark, daß man damit eine recht hübsche Stadt bevölkern könnte. Der gewöhn¬
lichen Spione im Königreiche sind nach amtlicher Angabe nahe an fünftausend


denn er übersteht seine Position von allen Seiten mit völliger Freiheit. Bei
Waldeck's Vertheidigung ist man immer ängstlich: wird nicht jetzt irgend ein Punkt
kommen, wo man ihn fassen kann! Seine Vertheidigung ist keine Totalität, sie hält
sich immer nur im Detail; sie ist kein Kunstwerk, sie macht wohl den Eindruck
der Wahrheit, aber nicht der vollen Wahrheit.

Ich habe in Ihrer Zeitschrift noch in den Tagen der Revolution (1848, Heft 37)
eine Charakteristik von Jacoby geliefert, die sich nachher in manchen Punkten be¬
stätigt hat. Ich machte Sie damals z. B. aus das Seutentiöse in seiner Polemik
aufmerksam. Die bekannte Novcmbergeschichte, die er mit dem König hatte, sein
Ausruf: ,,Das ist eben das Unglück der Könige, daß sie nicht-die Wahrheit hö¬
ren wollen," wurde damals nur von dem einen Gesichtspunkt aufgefaßt, als un-
motivirte Grobheit; sie ging aber eigentlich aus dem Bedürfniß hervor, die Si¬
tuation zu einer Sentenz abzuklären. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die
neueste Haltung der Demokratie, die reine Negation, seiner Natur so recht zu¬
sagt; er ist uun ganz in seinem Recht. Ich glaube nicht, daß Waldeck mit seiner
bei Weitem größeren Productivität sich in der neuen Rolle wohlgefällt. — Viel¬
leicht werden schon die nächsten Wahlen (die preußischen nämlich) in die Demo¬
kratie einen Riß machen. Die Verfassung ist nun einmal da, ob die Demokraten
sie anerkennen oder nicht, sie wird gegen sie angewendet. Zuletzt werdeu Dieje¬
nigen unter ihnen, die einen Trieb nach unmittelbarer Wirksamkeit fühlen, es doch
für nützlicher halten, sich zu betheiligen. Andere, die abstrakten Juristen, werden
ihren RechtSl'oden bewahren wollen. Ein Scheidungsprozeß, der anch in unserer
eigenen Partei vor sich gehen wird.




Das schwarze Buch in Warschau.



Die geheime Polizei ist im russischen Reiche so weit verbreitet, als die Fänge
des Doppelaars reichen, und gewisse zarte Spuren davon finden sich sogar in den
isolirten Flächen Sibiriens. Aber nirgend hat sie eine so feine und raffinirte Or¬
ganisation gewonnen wie in dem Großsürstenthum Litthauen und dem Königreich
Polen. Da sind eine Menge hohe Staatschargen ausschließlich in diesem saubern
Theile der Regierung beschäftigt; besondere Aemter, in verschiedenen Aemtern be¬
sondere Bureaus, sitzende und reisende Beamte, gewisse Truppenabtheilungen»
z. B. die Gensdarmerie, wo man keine Person aufnimmt, ohne sie eiuer genauen
Prüfung unterworfen zu haben. Das Heer der geheimen Diener vom Civil ist aber
so stark, daß man damit eine recht hübsche Stadt bevölkern könnte. Der gewöhn¬
lichen Spione im Königreiche sind nach amtlicher Angabe nahe an fünftausend


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/311>, abgerufen am 21.06.2024.