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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Indessen beweist eine mir vorliegende Abhandlung, die er eigenhändig über die¬
sen Gegenstand geschrieben hat, daß er lediglich vom katholischen Standpunkt aus
zu dieser Ansicht gelangt ist."

Ich finde nicht, daß in dieser Schilderung ein Widerspruch liegt. Wenn das
"in sich gekehrte, träumerische Wesen" in die bewegte Welt der That übergreift,
mit seinen hochfliegenden, idealen Plänen, denen gegenüber die Wirklichkeit gar
keine Berechtigung zu haben scheint, so wird er leichter zu den bezeichneten "radicalen"
Mitteln verleitet werden, als der kalte Weltmann, der über den einen Punkt den
andern nicht vergißt. Die unwissenschaftliche Darstellung, die mir z. B. in seiner
Rede über die unentgeltliche Aufhebung der Laudemieu noch mehr auffällt, erkläre
ich mir aus dem Ton, der in der Constituante herrschte, und zweifle keinen Augen"
blick daran, daß ein Mitglied des geheimen Obertribnnals im Stande sein würde,
seine Ansichten gründlicher und zusanmienhängender zu motiviren. -- Die andere
Seite seines Wesens, der Katholicismus, trat nur in gelegentlichen Aeußerungen
hervor. Ich erinnere mich, daß er in einer Rede über einen rein politischen
Gegenstand plötzlich auf die sinnige Ceremonie des Fußwaschens zu sprechen kam,
in welcher der Mensch an die Gleichheit mit seinen Brüdern erinnert wird. In
dem Augenblicke siel mir ein, daß der Socialismus einen besseren Boden in katho¬
lischen Ländern finden würde, als in protestantischen. Die Kirche selbst und die
meisten ihrer Institutionen sind socialistischer Natur, und in dem Jesnitenstaat von
Paraguay könnten die Schüler Fourrier's ihr Vorbild finden. Bei uns Protestan¬
ten ist die Hauptsache nicht, daß wir aufgeklärter wären in religiösen Dingen,
sondern daß wir geistig autonom sind. Wir mögen uns unsere Seligkeit nicht
erkaufen um den Preis unserer Freiheit, und so ist es auch in materiellen Din¬
gen; unser Eigenthum wollen wir haben, so klein es anch sein mag, und so
kümmerlich es uns auch ernährt; in eine socialistische Kaserne lassen wir uns
nicht pressen, wenn man uns auch noch so gut füttern wollte.

Waldeck's Thätigkeit ist immer darauf ausgegangen, das materielle Wohl der
unteren Volksklassen >zu erhöhen; seine polnischen Formen waren ihm nur Mittel
zum Zwecke. Jakoby dagegen beginnt mit den Ideen der Freiheit und des abstrac-
ten Rechts. Ich bin überzeugt, Waldeck würde gern die Dictatur annehmen, um
seine Ideen durchzuführen, einerlei, ob die Majorität oder die Minorität für ihn
wäre. Bei Jakoby setze ich eine ängstlichere Gewissenhaftigkeit voraus. Wenn
durch das absolute Wahlrecht das souveräne Volk eine Mehrheit von Aristokraten
in die Kammer senden sollte, so würde er vor seiner Majestät sich beugen. Jakoby
macht sich daher immer besser im Gericht, als in der Volksvertretung. Er ist
immer in seinem Recht, weiß das, und hat daher auf der Bank der Angeklagten
jenes volle und freie Wesen, das dem Richter imponirt. Seine Vertheidigungs¬
rede hat mir bei weitem besser gefallen, als Waldeck's. Er steht fest ans der
Warte seines Rechts, es ist ihm nicht beizukommen. Er darf sich nicht verstecken,


Indessen beweist eine mir vorliegende Abhandlung, die er eigenhändig über die¬
sen Gegenstand geschrieben hat, daß er lediglich vom katholischen Standpunkt aus
zu dieser Ansicht gelangt ist."

Ich finde nicht, daß in dieser Schilderung ein Widerspruch liegt. Wenn das
„in sich gekehrte, träumerische Wesen" in die bewegte Welt der That übergreift,
mit seinen hochfliegenden, idealen Plänen, denen gegenüber die Wirklichkeit gar
keine Berechtigung zu haben scheint, so wird er leichter zu den bezeichneten „radicalen"
Mitteln verleitet werden, als der kalte Weltmann, der über den einen Punkt den
andern nicht vergißt. Die unwissenschaftliche Darstellung, die mir z. B. in seiner
Rede über die unentgeltliche Aufhebung der Laudemieu noch mehr auffällt, erkläre
ich mir aus dem Ton, der in der Constituante herrschte, und zweifle keinen Augen»
blick daran, daß ein Mitglied des geheimen Obertribnnals im Stande sein würde,
seine Ansichten gründlicher und zusanmienhängender zu motiviren. — Die andere
Seite seines Wesens, der Katholicismus, trat nur in gelegentlichen Aeußerungen
hervor. Ich erinnere mich, daß er in einer Rede über einen rein politischen
Gegenstand plötzlich auf die sinnige Ceremonie des Fußwaschens zu sprechen kam,
in welcher der Mensch an die Gleichheit mit seinen Brüdern erinnert wird. In
dem Augenblicke siel mir ein, daß der Socialismus einen besseren Boden in katho¬
lischen Ländern finden würde, als in protestantischen. Die Kirche selbst und die
meisten ihrer Institutionen sind socialistischer Natur, und in dem Jesnitenstaat von
Paraguay könnten die Schüler Fourrier's ihr Vorbild finden. Bei uns Protestan¬
ten ist die Hauptsache nicht, daß wir aufgeklärter wären in religiösen Dingen,
sondern daß wir geistig autonom sind. Wir mögen uns unsere Seligkeit nicht
erkaufen um den Preis unserer Freiheit, und so ist es auch in materiellen Din¬
gen; unser Eigenthum wollen wir haben, so klein es anch sein mag, und so
kümmerlich es uns auch ernährt; in eine socialistische Kaserne lassen wir uns
nicht pressen, wenn man uns auch noch so gut füttern wollte.

Waldeck's Thätigkeit ist immer darauf ausgegangen, das materielle Wohl der
unteren Volksklassen >zu erhöhen; seine polnischen Formen waren ihm nur Mittel
zum Zwecke. Jakoby dagegen beginnt mit den Ideen der Freiheit und des abstrac-
ten Rechts. Ich bin überzeugt, Waldeck würde gern die Dictatur annehmen, um
seine Ideen durchzuführen, einerlei, ob die Majorität oder die Minorität für ihn
wäre. Bei Jakoby setze ich eine ängstlichere Gewissenhaftigkeit voraus. Wenn
durch das absolute Wahlrecht das souveräne Volk eine Mehrheit von Aristokraten
in die Kammer senden sollte, so würde er vor seiner Majestät sich beugen. Jakoby
macht sich daher immer besser im Gericht, als in der Volksvertretung. Er ist
immer in seinem Recht, weiß das, und hat daher auf der Bank der Angeklagten
jenes volle und freie Wesen, das dem Richter imponirt. Seine Vertheidigungs¬
rede hat mir bei weitem besser gefallen, als Waldeck's. Er steht fest ans der
Warte seines Rechts, es ist ihm nicht beizukommen. Er darf sich nicht verstecken,


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[0310] Indessen beweist eine mir vorliegende Abhandlung, die er eigenhändig über die¬ sen Gegenstand geschrieben hat, daß er lediglich vom katholischen Standpunkt aus zu dieser Ansicht gelangt ist." Ich finde nicht, daß in dieser Schilderung ein Widerspruch liegt. Wenn das „in sich gekehrte, träumerische Wesen" in die bewegte Welt der That übergreift, mit seinen hochfliegenden, idealen Plänen, denen gegenüber die Wirklichkeit gar keine Berechtigung zu haben scheint, so wird er leichter zu den bezeichneten „radicalen" Mitteln verleitet werden, als der kalte Weltmann, der über den einen Punkt den andern nicht vergißt. Die unwissenschaftliche Darstellung, die mir z. B. in seiner Rede über die unentgeltliche Aufhebung der Laudemieu noch mehr auffällt, erkläre ich mir aus dem Ton, der in der Constituante herrschte, und zweifle keinen Augen» blick daran, daß ein Mitglied des geheimen Obertribnnals im Stande sein würde, seine Ansichten gründlicher und zusanmienhängender zu motiviren. — Die andere Seite seines Wesens, der Katholicismus, trat nur in gelegentlichen Aeußerungen hervor. Ich erinnere mich, daß er in einer Rede über einen rein politischen Gegenstand plötzlich auf die sinnige Ceremonie des Fußwaschens zu sprechen kam, in welcher der Mensch an die Gleichheit mit seinen Brüdern erinnert wird. In dem Augenblicke siel mir ein, daß der Socialismus einen besseren Boden in katho¬ lischen Ländern finden würde, als in protestantischen. Die Kirche selbst und die meisten ihrer Institutionen sind socialistischer Natur, und in dem Jesnitenstaat von Paraguay könnten die Schüler Fourrier's ihr Vorbild finden. Bei uns Protestan¬ ten ist die Hauptsache nicht, daß wir aufgeklärter wären in religiösen Dingen, sondern daß wir geistig autonom sind. Wir mögen uns unsere Seligkeit nicht erkaufen um den Preis unserer Freiheit, und so ist es auch in materiellen Din¬ gen; unser Eigenthum wollen wir haben, so klein es anch sein mag, und so kümmerlich es uns auch ernährt; in eine socialistische Kaserne lassen wir uns nicht pressen, wenn man uns auch noch so gut füttern wollte. Waldeck's Thätigkeit ist immer darauf ausgegangen, das materielle Wohl der unteren Volksklassen >zu erhöhen; seine polnischen Formen waren ihm nur Mittel zum Zwecke. Jakoby dagegen beginnt mit den Ideen der Freiheit und des abstrac- ten Rechts. Ich bin überzeugt, Waldeck würde gern die Dictatur annehmen, um seine Ideen durchzuführen, einerlei, ob die Majorität oder die Minorität für ihn wäre. Bei Jakoby setze ich eine ängstlichere Gewissenhaftigkeit voraus. Wenn durch das absolute Wahlrecht das souveräne Volk eine Mehrheit von Aristokraten in die Kammer senden sollte, so würde er vor seiner Majestät sich beugen. Jakoby macht sich daher immer besser im Gericht, als in der Volksvertretung. Er ist immer in seinem Recht, weiß das, und hat daher auf der Bank der Angeklagten jenes volle und freie Wesen, das dem Richter imponirt. Seine Vertheidigungs¬ rede hat mir bei weitem besser gefallen, als Waldeck's. Er steht fest ans der Warte seines Rechts, es ist ihm nicht beizukommen. Er darf sich nicht verstecken,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/310>, abgerufen am 21.06.2024.