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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Gnade hat nur ein bedingtes Recht, sondern die Anerkennung, daß in einer Re¬
solution, wo alle bisher geltenden Begriffe sich auf den Kopf stellen, das Indi¬
viduum nicht mehr für Alles, wobei es sich betheiligt, persönlich verantwortlich
sein kann. Hier ist der Fall, wo der christliche Spruch seine Stelle findet: Wer
sich ohne Schuld fühlt, hebe den ersten Stein!




Ich benutze diese Gelegenheit, um einige Bemerkungen über zwei demokra¬
tische Notabilitäten anzuknüpfen, die in diese Prozesse verwickelt sind: Waldeck
und Jacoby. Sie repräsentiren in meinen Angen zwei politische Richtungen, die
sich bei uns noch nicht so gesondert haben, wie in Frankreich; die aber auch in
Deutschland nicht immer Hand in Hand gehen werden: den Socialismus und die
abstrocte Demokratie.

Ich will damit keinen quantitativen Unterschied ausdrücken; als ob, wie man
zu sagen pflegt, der Eine weiter gehe als der Andere. Nur geht der Socialist
auf's Materielle, der Demokrat aufs Formelle. Für den Socialisten ist das
Wohl des Volkes das höchste Gesetz, für den Demokraten der Wille des Vol¬
kes; der Eine ist mehr Oekonomist, der Andere mehr Jurist.

Waldeck's Charakter ist sehr verschieden aufgefaßt. Ich theile das Urtheil
eines früheren Amtsgenossen mit. "Herr Waldeck galt in den Orten seiner Wirk¬
samkeit für einen redlichen, milden Mann, für einen tüchtigen Juristen und für
wissenschaftlich gebildet. Ehrsucht und Neigung zu Umtrieben waren an ihm nicht
zu bemerken: vielmehr zeigte er ein stilles, in sich gekehrtes, fast träumerisches
Wesen, und mir erschien er wie eine durch äußere Unbeholfenheit beschränkte, poe¬
tische Natur. Eine gewisse Neigung, in die Gerichtssitzungen parlamentarisches
Gepränge zu bringen, war allerdings bei ihm nicht zu verkennen, aber nie hätte
ich den politischen Parteimann, noch weniger den Radikalen, und am wenigsten den
absichtlichen Verdreher der Wahrheit, als den er mehrfach sich gezeigt hat, in ihm
gesucht. Auch hielt ich ihn für zu wissenschaftlich, als daß er so tief in den gemei¬
nen radikalen Jargon verfallen könnte, um z. B., wie er in seiner Rede für die
Aufhebung der Zehureu es gethan, einen uoch bestehenden Zustand einen faulen,
reactionären Zustand zu nennen. Früher war Waldeck ein eifriger Katholik und
durch ihn wurde ich zuerst veranlaßt, Haller's Restauration der Staatswisscnschaf-
icn zu lesen. Er sagte mir nämlich, man habe Haller vorgeworfen, daß er in
seinem Werk die constitutionelle Monarchie Übergängen habe; dieser Vorwurf sei
unbegründet, denn der Constitutionalismus als ein todtes Abstraetum gehöre ebenso
wenig in die allgemeine Naturgeschichte des Staates, als in die Naturgeschichte
der, Vögel der Kuckuck an einer Uhr. Das einzige an den Liberalismus strei¬
fende, was ich je an ihm bemerkt habe, war, daß er die bürgerliche Ehe billigte.


Gnade hat nur ein bedingtes Recht, sondern die Anerkennung, daß in einer Re¬
solution, wo alle bisher geltenden Begriffe sich auf den Kopf stellen, das Indi¬
viduum nicht mehr für Alles, wobei es sich betheiligt, persönlich verantwortlich
sein kann. Hier ist der Fall, wo der christliche Spruch seine Stelle findet: Wer
sich ohne Schuld fühlt, hebe den ersten Stein!




Ich benutze diese Gelegenheit, um einige Bemerkungen über zwei demokra¬
tische Notabilitäten anzuknüpfen, die in diese Prozesse verwickelt sind: Waldeck
und Jacoby. Sie repräsentiren in meinen Angen zwei politische Richtungen, die
sich bei uns noch nicht so gesondert haben, wie in Frankreich; die aber auch in
Deutschland nicht immer Hand in Hand gehen werden: den Socialismus und die
abstrocte Demokratie.

Ich will damit keinen quantitativen Unterschied ausdrücken; als ob, wie man
zu sagen pflegt, der Eine weiter gehe als der Andere. Nur geht der Socialist
auf's Materielle, der Demokrat aufs Formelle. Für den Socialisten ist das
Wohl des Volkes das höchste Gesetz, für den Demokraten der Wille des Vol¬
kes; der Eine ist mehr Oekonomist, der Andere mehr Jurist.

Waldeck's Charakter ist sehr verschieden aufgefaßt. Ich theile das Urtheil
eines früheren Amtsgenossen mit. „Herr Waldeck galt in den Orten seiner Wirk¬
samkeit für einen redlichen, milden Mann, für einen tüchtigen Juristen und für
wissenschaftlich gebildet. Ehrsucht und Neigung zu Umtrieben waren an ihm nicht
zu bemerken: vielmehr zeigte er ein stilles, in sich gekehrtes, fast träumerisches
Wesen, und mir erschien er wie eine durch äußere Unbeholfenheit beschränkte, poe¬
tische Natur. Eine gewisse Neigung, in die Gerichtssitzungen parlamentarisches
Gepränge zu bringen, war allerdings bei ihm nicht zu verkennen, aber nie hätte
ich den politischen Parteimann, noch weniger den Radikalen, und am wenigsten den
absichtlichen Verdreher der Wahrheit, als den er mehrfach sich gezeigt hat, in ihm
gesucht. Auch hielt ich ihn für zu wissenschaftlich, als daß er so tief in den gemei¬
nen radikalen Jargon verfallen könnte, um z. B., wie er in seiner Rede für die
Aufhebung der Zehureu es gethan, einen uoch bestehenden Zustand einen faulen,
reactionären Zustand zu nennen. Früher war Waldeck ein eifriger Katholik und
durch ihn wurde ich zuerst veranlaßt, Haller's Restauration der Staatswisscnschaf-
icn zu lesen. Er sagte mir nämlich, man habe Haller vorgeworfen, daß er in
seinem Werk die constitutionelle Monarchie Übergängen habe; dieser Vorwurf sei
unbegründet, denn der Constitutionalismus als ein todtes Abstraetum gehöre ebenso
wenig in die allgemeine Naturgeschichte des Staates, als in die Naturgeschichte
der, Vögel der Kuckuck an einer Uhr. Das einzige an den Liberalismus strei¬
fende, was ich je an ihm bemerkt habe, war, daß er die bürgerliche Ehe billigte.


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[0309] Gnade hat nur ein bedingtes Recht, sondern die Anerkennung, daß in einer Re¬ solution, wo alle bisher geltenden Begriffe sich auf den Kopf stellen, das Indi¬ viduum nicht mehr für Alles, wobei es sich betheiligt, persönlich verantwortlich sein kann. Hier ist der Fall, wo der christliche Spruch seine Stelle findet: Wer sich ohne Schuld fühlt, hebe den ersten Stein! Ich benutze diese Gelegenheit, um einige Bemerkungen über zwei demokra¬ tische Notabilitäten anzuknüpfen, die in diese Prozesse verwickelt sind: Waldeck und Jacoby. Sie repräsentiren in meinen Angen zwei politische Richtungen, die sich bei uns noch nicht so gesondert haben, wie in Frankreich; die aber auch in Deutschland nicht immer Hand in Hand gehen werden: den Socialismus und die abstrocte Demokratie. Ich will damit keinen quantitativen Unterschied ausdrücken; als ob, wie man zu sagen pflegt, der Eine weiter gehe als der Andere. Nur geht der Socialist auf's Materielle, der Demokrat aufs Formelle. Für den Socialisten ist das Wohl des Volkes das höchste Gesetz, für den Demokraten der Wille des Vol¬ kes; der Eine ist mehr Oekonomist, der Andere mehr Jurist. Waldeck's Charakter ist sehr verschieden aufgefaßt. Ich theile das Urtheil eines früheren Amtsgenossen mit. „Herr Waldeck galt in den Orten seiner Wirk¬ samkeit für einen redlichen, milden Mann, für einen tüchtigen Juristen und für wissenschaftlich gebildet. Ehrsucht und Neigung zu Umtrieben waren an ihm nicht zu bemerken: vielmehr zeigte er ein stilles, in sich gekehrtes, fast träumerisches Wesen, und mir erschien er wie eine durch äußere Unbeholfenheit beschränkte, poe¬ tische Natur. Eine gewisse Neigung, in die Gerichtssitzungen parlamentarisches Gepränge zu bringen, war allerdings bei ihm nicht zu verkennen, aber nie hätte ich den politischen Parteimann, noch weniger den Radikalen, und am wenigsten den absichtlichen Verdreher der Wahrheit, als den er mehrfach sich gezeigt hat, in ihm gesucht. Auch hielt ich ihn für zu wissenschaftlich, als daß er so tief in den gemei¬ nen radikalen Jargon verfallen könnte, um z. B., wie er in seiner Rede für die Aufhebung der Zehureu es gethan, einen uoch bestehenden Zustand einen faulen, reactionären Zustand zu nennen. Früher war Waldeck ein eifriger Katholik und durch ihn wurde ich zuerst veranlaßt, Haller's Restauration der Staatswisscnschaf- icn zu lesen. Er sagte mir nämlich, man habe Haller vorgeworfen, daß er in seinem Werk die constitutionelle Monarchie Übergängen habe; dieser Vorwurf sei unbegründet, denn der Constitutionalismus als ein todtes Abstraetum gehöre ebenso wenig in die allgemeine Naturgeschichte des Staates, als in die Naturgeschichte der, Vögel der Kuckuck an einer Uhr. Das einzige an den Liberalismus strei¬ fende, was ich je an ihm bemerkt habe, war, daß er die bürgerliche Ehe billigte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/309>, abgerufen am 21.06.2024.