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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Volkslieder und kleine Züge die Individualität der Stämme, durch welche er fliegt,
er charakteristrt das alttnssische Leben der Moskowiter durch die -- vortreffliche --
Uebertragung eines nationalen Gedichtes, das Lermontov aus alten Volkslie¬
dern zusammengesetzt hat, das Lied vom Czaren Iwan Wassiljewitsch;
dann geht's ähnlich durch die dorische Steppe nach Tiflis. Das Leben in Geor¬
gien und Armenien wird personificirt in einer Anzahl von drolligen und ernsten
Figuren; durch die Hauptfigur des Buches, Mirza Schaffy, den Lehrer des Rei¬
senden in der Tartarischen Sprache und der poetischen Weisheit des Orients;
den armenischen Fürsten T., den Prediger von Eriwan, den Patriarchen des
Ararat, die finstere Geschichte der Familie Abel-Chan's von Kaitach u. s. w.

Unter die Gestalten der Orients aber treten die Gebieter des Landes, die
Nüssen, als weniger poetische Figuren auf, und man sieht über der ganzen bun¬
ten Welt des russischen Orients jenes Verhängniß schweben, das sich überall be¬
reitet, wo ein untergehendes altes Volksleben mit einem neuen, unfertigen im
Kampfe liegt. Von Tiflis fährt der Reisende zu den Ländern des schwarzen
Meeres, in die ungesunden Fieberstationen an der Küste; und die letzten Eindrücke,
welche der Zug in eine fremde Welt dem Leser hinterläßt, sind von ernster und
drohender Art. -- Der Verfasser verspricht eine Fortsetzung, wir erwarten sie
schon nach dem Titel, der für den einen Band, welchen wir gegenwärtig in Hän¬
den haben, eine zu weite Hülle ist.

Ans dem Mittelpunkt des Buches, dein Kreise des weisen Mirza Schaffy
theilen wir einen Abschnitt mit, charakteristisch für den Verfasser und die Welt,
welche er schildert. Mirza Schaffy, der närrische.Kanz, welcher nach orientalischer
Auffassung das Tartarische nicht grammatikalisch als Sprache lehrt, sondern als Weis¬
heit, in Sprüchen und Liedern von Hafis und seinen eigenen, hat seinem Schüler
Bodenstedt schon oft von einem andern Weisen des Morgenlandes erzählt, der
fast eben so weise sei, als er, Mirza Schafft), der "Schüler" benützt einen Aus¬
flug, diese zweite Große zu besuchen:




Unter den wenigen, in Achalzich zurückgebliebenen Türken, war der hervorra¬
gendste Omar-Effendi, ein Schriftgelehrter, den ein kleiner Grundbesitz in dem
unweit der Hauptstadt gelegenen Dorfe Adigion, sowie besondere Gunstbezeugungen
der russischen Regierung an die Scholle fesselten.

Mirza-Schafsy hatte schon in den ersten Monaten unsers Beisammenseins
an Omar-Effendi geschrieben: es Hause jetzt in Tiflis ein junger Allen aus,
dem Abendlande, der bei ihm die Weisheit lerne, und der später auch eine Wall¬
fahrt zu Omar-Effendi unternehmen werde, um seine Sprüche der Weisheit
zu erforschen. Mein bescheidenes Dasein war also nicht nnr dem Weisen von Adi¬
gion längst bekannt, sondern durch diesen auch zur Kenntniß der ganzen Nachbar-


Volkslieder und kleine Züge die Individualität der Stämme, durch welche er fliegt,
er charakteristrt das alttnssische Leben der Moskowiter durch die — vortreffliche —
Uebertragung eines nationalen Gedichtes, das Lermontov aus alten Volkslie¬
dern zusammengesetzt hat, das Lied vom Czaren Iwan Wassiljewitsch;
dann geht's ähnlich durch die dorische Steppe nach Tiflis. Das Leben in Geor¬
gien und Armenien wird personificirt in einer Anzahl von drolligen und ernsten
Figuren; durch die Hauptfigur des Buches, Mirza Schaffy, den Lehrer des Rei¬
senden in der Tartarischen Sprache und der poetischen Weisheit des Orients;
den armenischen Fürsten T., den Prediger von Eriwan, den Patriarchen des
Ararat, die finstere Geschichte der Familie Abel-Chan's von Kaitach u. s. w.

Unter die Gestalten der Orients aber treten die Gebieter des Landes, die
Nüssen, als weniger poetische Figuren auf, und man sieht über der ganzen bun¬
ten Welt des russischen Orients jenes Verhängniß schweben, das sich überall be¬
reitet, wo ein untergehendes altes Volksleben mit einem neuen, unfertigen im
Kampfe liegt. Von Tiflis fährt der Reisende zu den Ländern des schwarzen
Meeres, in die ungesunden Fieberstationen an der Küste; und die letzten Eindrücke,
welche der Zug in eine fremde Welt dem Leser hinterläßt, sind von ernster und
drohender Art. — Der Verfasser verspricht eine Fortsetzung, wir erwarten sie
schon nach dem Titel, der für den einen Band, welchen wir gegenwärtig in Hän¬
den haben, eine zu weite Hülle ist.

Ans dem Mittelpunkt des Buches, dein Kreise des weisen Mirza Schaffy
theilen wir einen Abschnitt mit, charakteristisch für den Verfasser und die Welt,
welche er schildert. Mirza Schaffy, der närrische.Kanz, welcher nach orientalischer
Auffassung das Tartarische nicht grammatikalisch als Sprache lehrt, sondern als Weis¬
heit, in Sprüchen und Liedern von Hafis und seinen eigenen, hat seinem Schüler
Bodenstedt schon oft von einem andern Weisen des Morgenlandes erzählt, der
fast eben so weise sei, als er, Mirza Schafft), der „Schüler" benützt einen Aus¬
flug, diese zweite Große zu besuchen:




Unter den wenigen, in Achalzich zurückgebliebenen Türken, war der hervorra¬
gendste Omar-Effendi, ein Schriftgelehrter, den ein kleiner Grundbesitz in dem
unweit der Hauptstadt gelegenen Dorfe Adigion, sowie besondere Gunstbezeugungen
der russischen Regierung an die Scholle fesselten.

Mirza-Schafsy hatte schon in den ersten Monaten unsers Beisammenseins
an Omar-Effendi geschrieben: es Hause jetzt in Tiflis ein junger Allen aus,
dem Abendlande, der bei ihm die Weisheit lerne, und der später auch eine Wall¬
fahrt zu Omar-Effendi unternehmen werde, um seine Sprüche der Weisheit
zu erforschen. Mein bescheidenes Dasein war also nicht nnr dem Weisen von Adi¬
gion längst bekannt, sondern durch diesen auch zur Kenntniß der ganzen Nachbar-


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[0261] Volkslieder und kleine Züge die Individualität der Stämme, durch welche er fliegt, er charakteristrt das alttnssische Leben der Moskowiter durch die — vortreffliche — Uebertragung eines nationalen Gedichtes, das Lermontov aus alten Volkslie¬ dern zusammengesetzt hat, das Lied vom Czaren Iwan Wassiljewitsch; dann geht's ähnlich durch die dorische Steppe nach Tiflis. Das Leben in Geor¬ gien und Armenien wird personificirt in einer Anzahl von drolligen und ernsten Figuren; durch die Hauptfigur des Buches, Mirza Schaffy, den Lehrer des Rei¬ senden in der Tartarischen Sprache und der poetischen Weisheit des Orients; den armenischen Fürsten T., den Prediger von Eriwan, den Patriarchen des Ararat, die finstere Geschichte der Familie Abel-Chan's von Kaitach u. s. w. Unter die Gestalten der Orients aber treten die Gebieter des Landes, die Nüssen, als weniger poetische Figuren auf, und man sieht über der ganzen bun¬ ten Welt des russischen Orients jenes Verhängniß schweben, das sich überall be¬ reitet, wo ein untergehendes altes Volksleben mit einem neuen, unfertigen im Kampfe liegt. Von Tiflis fährt der Reisende zu den Ländern des schwarzen Meeres, in die ungesunden Fieberstationen an der Küste; und die letzten Eindrücke, welche der Zug in eine fremde Welt dem Leser hinterläßt, sind von ernster und drohender Art. — Der Verfasser verspricht eine Fortsetzung, wir erwarten sie schon nach dem Titel, der für den einen Band, welchen wir gegenwärtig in Hän¬ den haben, eine zu weite Hülle ist. Ans dem Mittelpunkt des Buches, dein Kreise des weisen Mirza Schaffy theilen wir einen Abschnitt mit, charakteristisch für den Verfasser und die Welt, welche er schildert. Mirza Schaffy, der närrische.Kanz, welcher nach orientalischer Auffassung das Tartarische nicht grammatikalisch als Sprache lehrt, sondern als Weis¬ heit, in Sprüchen und Liedern von Hafis und seinen eigenen, hat seinem Schüler Bodenstedt schon oft von einem andern Weisen des Morgenlandes erzählt, der fast eben so weise sei, als er, Mirza Schafft), der „Schüler" benützt einen Aus¬ flug, diese zweite Große zu besuchen: Unter den wenigen, in Achalzich zurückgebliebenen Türken, war der hervorra¬ gendste Omar-Effendi, ein Schriftgelehrter, den ein kleiner Grundbesitz in dem unweit der Hauptstadt gelegenen Dorfe Adigion, sowie besondere Gunstbezeugungen der russischen Regierung an die Scholle fesselten. Mirza-Schafsy hatte schon in den ersten Monaten unsers Beisammenseins an Omar-Effendi geschrieben: es Hause jetzt in Tiflis ein junger Allen aus, dem Abendlande, der bei ihm die Weisheit lerne, und der später auch eine Wall¬ fahrt zu Omar-Effendi unternehmen werde, um seine Sprüche der Weisheit zu erforschen. Mein bescheidenes Dasein war also nicht nnr dem Weisen von Adi¬ gion längst bekannt, sondern durch diesen auch zur Kenntniß der ganzen Nachbar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/261>, abgerufen am 27.06.2024.