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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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schen Welt außerdem durch seine taktvolle Leitung des Lloyd in dessen liberaler
Periode zu Trieft, bereits rühmlich bekannt. Bei einem Reisebuch aus dem Orient
fragen wir zunächst nach der Berechtigung des Verfassers, nach seinem politischen
Standpunkt, der Schärfe seines Blicks, seinen Interessen und seiner Darstellnngs-
kuust, und wir werden den Reisenden -- wenn er nicht bestimmte wissenschaftliche
Zwecke verfolgt, als Botaniker, Archäolog, Sprachforscher u. s. w. -- um so höher
schätzen, je besser es ihm gelingt, uus die Zustände und Eigenthümlichkeiten der
fremden Menschen, unter denen er gelebt hat, verständlich und interessant zu ma¬
chen. Bodenstedt hat beide Tugenden eines guten deutschen Reisenden, sowohl die
häufigere, sich leicht und unbefangen in die fremde Welt, welche ihn umgibt, hin¬
einzuleben, als auch die seltene, sich ein freies und sicheres Urtheil über das Em-
pfnudeue und Erlebte aufzubauen. Als junger Mann aber mit tüchtiger nord-
deutscher Bildung kam er nach Nußland, von da in die transkaukasischeu Provin¬
zen des Czarenreiches, unter die Tscherkessen, nach der Türkei und so fort, seine
eigenen Verhältnisse waren überall, wie es scheint, sehr günstige, denn sie erlaub¬
ten ihm,, alle bedeutenden Menschen und Situationen in der Ruhe zu beobachten,
und mit sicherem Schritt in Paläste und Hütten zu gehen; ein ungewöhnliches
Talent für fremde Sprachen muß ihm außerdem den Umgang mit den Fremden
sehr erleichtert haben. Was ihn überall fesselte und beschäftigte, war die Seele
der Menschen und Völker, ihr ideales Empfinden, ihr gemüthliches Leben, wie es
sich in ihrer Poesie, ihren Gebräuchen und Sitten abspiegelt. Dafür hat der
Reifende einen sehr scharfen Blick, er weiß ans dem Einzelnen der Erscheinung
das Wesen des Menschen darzustellen, und was noch mehr werth ist, er weiß auch
aus dem Wunderlichen und Lächerlichen das Schöne und Menschliche herauszu-
finden. Er interessirt, weil er gut beobachtet, aber er macht uns auch lieb und
vertraut, was er sieht, weil er selbst Liebe zu den Menschen in dem Herzen trägt,
und während er sich den Eindrücken der Stunde hingibt, zu gleicher Zeit mit
Laune und Humor darüber reflectirt. Diese gute dichterische Begabung ist der
charakteristische Vorzug Bodenstedt's; für den Leser erwächst daraus der große
Vortheil, daß ihm aus kleinen Zügen, auch da, wo der Reisende schnell, ja flüch¬
tig über den Augenblick hinzugehen scheint, ein lebhafter Eindruck und ein gutes
Verständniß der Menschen und Sitten zu Theil wird.

Das letzte Werk des Verfassers wird am Besten in Verbindung mit seinen
früheren gelesen. Es ist mit seinen Bildern, Gedichten und Situationen eine hei¬
tere Ergänzung jener Bücher, in denen er die Poesie der Ukraine und das Reich
Schamyl's dargestellt hat. Wenn in den Völkern des Kaukasus die kunstvolle
Darstellung des philosophischen Systems der Münden uns Respect vor den eth¬
nographischen Studien Bodenstedt's abzwingt, so läßt man- sich in diesem Buch
durch die ruhige Heiterkeit seiner genießenden Seele fesseln. Der Versasser führt
von Moskau nach Tiflis und skizzirt auf der schnellen Reise durch eingestreute


schen Welt außerdem durch seine taktvolle Leitung des Lloyd in dessen liberaler
Periode zu Trieft, bereits rühmlich bekannt. Bei einem Reisebuch aus dem Orient
fragen wir zunächst nach der Berechtigung des Verfassers, nach seinem politischen
Standpunkt, der Schärfe seines Blicks, seinen Interessen und seiner Darstellnngs-
kuust, und wir werden den Reisenden — wenn er nicht bestimmte wissenschaftliche
Zwecke verfolgt, als Botaniker, Archäolog, Sprachforscher u. s. w. — um so höher
schätzen, je besser es ihm gelingt, uus die Zustände und Eigenthümlichkeiten der
fremden Menschen, unter denen er gelebt hat, verständlich und interessant zu ma¬
chen. Bodenstedt hat beide Tugenden eines guten deutschen Reisenden, sowohl die
häufigere, sich leicht und unbefangen in die fremde Welt, welche ihn umgibt, hin¬
einzuleben, als auch die seltene, sich ein freies und sicheres Urtheil über das Em-
pfnudeue und Erlebte aufzubauen. Als junger Mann aber mit tüchtiger nord-
deutscher Bildung kam er nach Nußland, von da in die transkaukasischeu Provin¬
zen des Czarenreiches, unter die Tscherkessen, nach der Türkei und so fort, seine
eigenen Verhältnisse waren überall, wie es scheint, sehr günstige, denn sie erlaub¬
ten ihm,, alle bedeutenden Menschen und Situationen in der Ruhe zu beobachten,
und mit sicherem Schritt in Paläste und Hütten zu gehen; ein ungewöhnliches
Talent für fremde Sprachen muß ihm außerdem den Umgang mit den Fremden
sehr erleichtert haben. Was ihn überall fesselte und beschäftigte, war die Seele
der Menschen und Völker, ihr ideales Empfinden, ihr gemüthliches Leben, wie es
sich in ihrer Poesie, ihren Gebräuchen und Sitten abspiegelt. Dafür hat der
Reifende einen sehr scharfen Blick, er weiß ans dem Einzelnen der Erscheinung
das Wesen des Menschen darzustellen, und was noch mehr werth ist, er weiß auch
aus dem Wunderlichen und Lächerlichen das Schöne und Menschliche herauszu-
finden. Er interessirt, weil er gut beobachtet, aber er macht uns auch lieb und
vertraut, was er sieht, weil er selbst Liebe zu den Menschen in dem Herzen trägt,
und während er sich den Eindrücken der Stunde hingibt, zu gleicher Zeit mit
Laune und Humor darüber reflectirt. Diese gute dichterische Begabung ist der
charakteristische Vorzug Bodenstedt's; für den Leser erwächst daraus der große
Vortheil, daß ihm aus kleinen Zügen, auch da, wo der Reisende schnell, ja flüch¬
tig über den Augenblick hinzugehen scheint, ein lebhafter Eindruck und ein gutes
Verständniß der Menschen und Sitten zu Theil wird.

Das letzte Werk des Verfassers wird am Besten in Verbindung mit seinen
früheren gelesen. Es ist mit seinen Bildern, Gedichten und Situationen eine hei¬
tere Ergänzung jener Bücher, in denen er die Poesie der Ukraine und das Reich
Schamyl's dargestellt hat. Wenn in den Völkern des Kaukasus die kunstvolle
Darstellung des philosophischen Systems der Münden uns Respect vor den eth¬
nographischen Studien Bodenstedt's abzwingt, so läßt man- sich in diesem Buch
durch die ruhige Heiterkeit seiner genießenden Seele fesseln. Der Versasser führt
von Moskau nach Tiflis und skizzirt auf der schnellen Reise durch eingestreute


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/260>, abgerufen am 27.06.2024.