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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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eine Krankheit unseres Jahrhunderts. Wir sind von so schwachem Selbstgefühl,
wie die Sclaven eines Serails, und schreien doch "Republik" wie Hellenen
oder Römer.

Görgey/s Charakterlosigkeit und Kossuth's Schwäche haben der ungarischen
Sache mehr geschadet, als die 200,000 Russen, welche die Fluren des Vaterlan¬
des überschwemmten. Wäre einer von beiden ein republikanischer Charakter ge¬
wesen, so wäre Ungarn entweder durch einen Napoleon zum Tempel des Ruhmes,
oder durch Washington zur ewigen Freiheit geführt worden. Es nützt aber nichts,
zu sagen, was hätte geschehen können. Uebrigens läßt sich mit Sicherheit behaup¬
ten, daß Görgey nicht im Sinne hatte, einen Streich zu Gunsten des Kaiserstaats
zu führen. Dafür spricht der Haß, welchen er bei jeder Gelegenheit gegen die
Oestreicher an den Tag legte, ich weise hier auf die dem deutschen Publikum wohl¬
bekannte Aufforderung hin, die er dem Ofener Kommandanten Henzi zuschickte,
und die auf den Charakter des Eroberers von Ofen eben kein glänzendes Licht
wirft; ferner auf mehrere Zuschriften, die er an Windischgrätz und andere östrei¬
chische Feldherren sendete, in welchen er sich mit wahrer und gerechter Entrüstung
über das Verfahren derselben, die gefangenen ungarischen Offiziere kriegsrechtlich
tödten zu lassen, ausspricht und in stolzem Tone die Drohung hinzufügt, für jedes
derartige Opfer ans der großen Zahl seiner gefangenen östreichischen Offiziere drei
durch's Loos ziehen und hinrichten zu lassen; endlich und besonders aber auf den
Umstand, daß er sein Schwert nicht, wie es zur Sühne der damit geschlagenen
Wunden hätte geschehen sollen, in die Hand eines östreichischen, sondern eines
russischen Generals niederlegte und in seinem Rundschreiben an die Festungskom¬
mandanten diesen auftrug, ihre Festungen an die Russen auszuliefernd) --

Die Oestreicher haben diesen Unterschied wohl empfunden, und die Spannung,
ja Feindseligkeit, welche zu Ende des Feldzuges zwischen den nordischen Freunden
und den siegreichen Oestreichern an die Stelle der frühern <?mort<z cordialo ge¬
treten war, ist größtenteils diesem Umstände zuzuschreiben. --

Was den Zeitpunkt betrifft, in welchem Görgey an die Ausführung seines
Verraths geschritten sein mag, so kann dieser unstreitig nur zwischen den Schlachten
bei Waitzen und Debreczin, also in die Zeit des Manövers zwischen der Sajo
und dem Herrad gesetzt werden. Wer den Bericht über dieses Blindekuhspiel ge¬
lesen hat, wird leicht einsehen, daß hier die Operationen der Truppen den Unter¬
handlungen der Feldherren nur Nachdruck geben sollten, in Folge theilweiser
oder gänzlicher Uebereinkunst mußte noch ein bedeutendes Corps -- wie das Nagy'-



*) Ein Augenzeuge erzählte mir, daß bei der Uebergabe von Arad, die am 18. August
am linken Ufer der Maros, auf einer großen Ebene, in einem von russischen Truppen gebil¬
deten Carre mit großer Feierlichkeit stattfand, einige östreich sche Offiziere, die hier müssige
Zuschauer abgaben, sich in das Carre einzudrängen versuchten, aber von den russischen Offi¬
zieren ziemlich derb zurückgewiesen wurden.

eine Krankheit unseres Jahrhunderts. Wir sind von so schwachem Selbstgefühl,
wie die Sclaven eines Serails, und schreien doch „Republik" wie Hellenen
oder Römer.

Görgey/s Charakterlosigkeit und Kossuth's Schwäche haben der ungarischen
Sache mehr geschadet, als die 200,000 Russen, welche die Fluren des Vaterlan¬
des überschwemmten. Wäre einer von beiden ein republikanischer Charakter ge¬
wesen, so wäre Ungarn entweder durch einen Napoleon zum Tempel des Ruhmes,
oder durch Washington zur ewigen Freiheit geführt worden. Es nützt aber nichts,
zu sagen, was hätte geschehen können. Uebrigens läßt sich mit Sicherheit behaup¬
ten, daß Görgey nicht im Sinne hatte, einen Streich zu Gunsten des Kaiserstaats
zu führen. Dafür spricht der Haß, welchen er bei jeder Gelegenheit gegen die
Oestreicher an den Tag legte, ich weise hier auf die dem deutschen Publikum wohl¬
bekannte Aufforderung hin, die er dem Ofener Kommandanten Henzi zuschickte,
und die auf den Charakter des Eroberers von Ofen eben kein glänzendes Licht
wirft; ferner auf mehrere Zuschriften, die er an Windischgrätz und andere östrei¬
chische Feldherren sendete, in welchen er sich mit wahrer und gerechter Entrüstung
über das Verfahren derselben, die gefangenen ungarischen Offiziere kriegsrechtlich
tödten zu lassen, ausspricht und in stolzem Tone die Drohung hinzufügt, für jedes
derartige Opfer ans der großen Zahl seiner gefangenen östreichischen Offiziere drei
durch's Loos ziehen und hinrichten zu lassen; endlich und besonders aber auf den
Umstand, daß er sein Schwert nicht, wie es zur Sühne der damit geschlagenen
Wunden hätte geschehen sollen, in die Hand eines östreichischen, sondern eines
russischen Generals niederlegte und in seinem Rundschreiben an die Festungskom¬
mandanten diesen auftrug, ihre Festungen an die Russen auszuliefernd) —

Die Oestreicher haben diesen Unterschied wohl empfunden, und die Spannung,
ja Feindseligkeit, welche zu Ende des Feldzuges zwischen den nordischen Freunden
und den siegreichen Oestreichern an die Stelle der frühern <?mort<z cordialo ge¬
treten war, ist größtenteils diesem Umstände zuzuschreiben. —

Was den Zeitpunkt betrifft, in welchem Görgey an die Ausführung seines
Verraths geschritten sein mag, so kann dieser unstreitig nur zwischen den Schlachten
bei Waitzen und Debreczin, also in die Zeit des Manövers zwischen der Sajo
und dem Herrad gesetzt werden. Wer den Bericht über dieses Blindekuhspiel ge¬
lesen hat, wird leicht einsehen, daß hier die Operationen der Truppen den Unter¬
handlungen der Feldherren nur Nachdruck geben sollten, in Folge theilweiser
oder gänzlicher Uebereinkunst mußte noch ein bedeutendes Corps — wie das Nagy'-



*) Ein Augenzeuge erzählte mir, daß bei der Uebergabe von Arad, die am 18. August
am linken Ufer der Maros, auf einer großen Ebene, in einem von russischen Truppen gebil¬
deten Carre mit großer Feierlichkeit stattfand, einige östreich sche Offiziere, die hier müssige
Zuschauer abgaben, sich in das Carre einzudrängen versuchten, aber von den russischen Offi¬
zieren ziemlich derb zurückgewiesen wurden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/235>, abgerufen am 01.07.2024.