Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

alte Gleis seiner Pflichten zurückgezogen. Uebrigens möchte ich nicht behaupten,
daß das Fortbestehen dieses patriarchalischen Verhältnisses von Dauer und daß
der gegenwärtige Zustand mehr sei als ein Hantüberzug über einer ""geheilten
Wunde. Haben doch einzelne Edelleute selbst nach dem fürchterlichen Bauernauf¬
stand ihr auffahrendes Wesen nicht ablegen können und in derselben Nacht, wo in
unserem Dorf der Bauer in der Schenke den Branntwein des gastlichen Edel¬
manns trank, brannte an der kleinen Wisloka ein Edelsitz nieder, den die Bauern
angesteckt hatten. --




Ein Urtheil über Görgey.

Gestalten Sie jetzt, wo Alles über den ungarischen Krieg und Görgey schreibt,
einem Fremden, der das unglücklichste Kind des ungarischen Gottes seit seiner
Jugend gekannt hat, eine Bemerkung über ihn.

Ueber das Verfahren Görgey's kann kaum mehr ein Zweifel übrig blei¬
ben'; sein "Verrath" beginnt nicht bei Vilagos, noch da, wo er zuerst mit den
Russen zu unterhandeln anfing, sondern bei Komorn, wo er gegen den Plan, den
er selbst ausarbeiten half und billigte, seine Stellung nicht aufgab und dadurch
die erste Verwirrung in der Negierung hervorrief. Aber dieser "Verrath" hatte
seinen Ursprung nicht in dem bösen Willen, das Zutrauen einer Nation zu selbst¬
süchtigen Zwecken zu mißbrauchen, sondern in der Selbstüberschätzung eines vom
Glück verzogenen Soldaten, und in dem Mangel an politischer Einsicht. Görgey
wollte die Regierung, welche die verhaßten Polen bevorzugte, durch Soldateuin-
triguen discreditiren zu einer Zeit, wo diese allmächtig sein oder gestürzt werden
mußte. Die Pole" zu dulden, hatte er nicht genug patriotische Selbstverleugnung,
die Regierung zu stürzen, fehlte es ihm an Genie.

Hier zeigt uns die Geschichte wieder, daß, wenn Despotien Jahrhunderte
lang unter Soldaten- und Maitressenherrschaft bestehen können, ein freier Staat
ununterbrochen von Charakteren getragen werden muß. Epaminondas vernichtet
die Spartaner bei Leuctra und erhebt seiue bedeutungslose Vaterstadt zur Hegemonie
von Griechenland: die Thebaner tragen auf Todesstrafe gegen ihn an, weil er die Zeit
seiner Vollmacht übertreten hat; -- Görgey verhöhnt die Regierung von 10 Mil¬
lionen Menschen, indem er ihren Gesandten verspricht, zu kommen und dennoch
bleibt, und nach einigen Tagen kündigt diese Negierung dem Volke in einem rie¬
senhaften Maueranschlag den Sieg Görgey's bei Szöny an und erschöpft sich in
Lobeserhebung über die Tapferkeit des meuterischen Soldaten. -- Wohl ist dies


alte Gleis seiner Pflichten zurückgezogen. Uebrigens möchte ich nicht behaupten,
daß das Fortbestehen dieses patriarchalischen Verhältnisses von Dauer und daß
der gegenwärtige Zustand mehr sei als ein Hantüberzug über einer »«geheilten
Wunde. Haben doch einzelne Edelleute selbst nach dem fürchterlichen Bauernauf¬
stand ihr auffahrendes Wesen nicht ablegen können und in derselben Nacht, wo in
unserem Dorf der Bauer in der Schenke den Branntwein des gastlichen Edel¬
manns trank, brannte an der kleinen Wisloka ein Edelsitz nieder, den die Bauern
angesteckt hatten. —




Ein Urtheil über Görgey.

Gestalten Sie jetzt, wo Alles über den ungarischen Krieg und Görgey schreibt,
einem Fremden, der das unglücklichste Kind des ungarischen Gottes seit seiner
Jugend gekannt hat, eine Bemerkung über ihn.

Ueber das Verfahren Görgey's kann kaum mehr ein Zweifel übrig blei¬
ben'; sein „Verrath" beginnt nicht bei Vilagos, noch da, wo er zuerst mit den
Russen zu unterhandeln anfing, sondern bei Komorn, wo er gegen den Plan, den
er selbst ausarbeiten half und billigte, seine Stellung nicht aufgab und dadurch
die erste Verwirrung in der Negierung hervorrief. Aber dieser „Verrath" hatte
seinen Ursprung nicht in dem bösen Willen, das Zutrauen einer Nation zu selbst¬
süchtigen Zwecken zu mißbrauchen, sondern in der Selbstüberschätzung eines vom
Glück verzogenen Soldaten, und in dem Mangel an politischer Einsicht. Görgey
wollte die Regierung, welche die verhaßten Polen bevorzugte, durch Soldateuin-
triguen discreditiren zu einer Zeit, wo diese allmächtig sein oder gestürzt werden
mußte. Die Pole» zu dulden, hatte er nicht genug patriotische Selbstverleugnung,
die Regierung zu stürzen, fehlte es ihm an Genie.

Hier zeigt uns die Geschichte wieder, daß, wenn Despotien Jahrhunderte
lang unter Soldaten- und Maitressenherrschaft bestehen können, ein freier Staat
ununterbrochen von Charakteren getragen werden muß. Epaminondas vernichtet
die Spartaner bei Leuctra und erhebt seiue bedeutungslose Vaterstadt zur Hegemonie
von Griechenland: die Thebaner tragen auf Todesstrafe gegen ihn an, weil er die Zeit
seiner Vollmacht übertreten hat; — Görgey verhöhnt die Regierung von 10 Mil¬
lionen Menschen, indem er ihren Gesandten verspricht, zu kommen und dennoch
bleibt, und nach einigen Tagen kündigt diese Negierung dem Volke in einem rie¬
senhaften Maueranschlag den Sieg Görgey's bei Szöny an und erschöpft sich in
Lobeserhebung über die Tapferkeit des meuterischen Soldaten. — Wohl ist dies


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0234" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93057"/>
          <p xml:id="ID_738" prev="#ID_737"> alte Gleis seiner Pflichten zurückgezogen. Uebrigens möchte ich nicht behaupten,<lb/>
daß das Fortbestehen dieses patriarchalischen Verhältnisses von Dauer und daß<lb/>
der gegenwärtige Zustand mehr sei als ein Hantüberzug über einer »«geheilten<lb/>
Wunde. Haben doch einzelne Edelleute selbst nach dem fürchterlichen Bauernauf¬<lb/>
stand ihr auffahrendes Wesen nicht ablegen können und in derselben Nacht, wo in<lb/>
unserem Dorf der Bauer in der Schenke den Branntwein des gastlichen Edel¬<lb/>
manns trank, brannte an der kleinen Wisloka ein Edelsitz nieder, den die Bauern<lb/>
angesteckt hatten. &#x2014;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Ein Urtheil über Görgey.<lb/></head><lb/>
          <p xml:id="ID_739"> Gestalten Sie jetzt, wo Alles über den ungarischen Krieg und Görgey schreibt,<lb/>
einem Fremden, der das unglücklichste Kind des ungarischen Gottes seit seiner<lb/>
Jugend gekannt hat, eine Bemerkung über ihn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_740"> Ueber das Verfahren Görgey's kann kaum mehr ein Zweifel übrig blei¬<lb/>
ben'; sein &#x201E;Verrath" beginnt nicht bei Vilagos, noch da, wo er zuerst mit den<lb/>
Russen zu unterhandeln anfing, sondern bei Komorn, wo er gegen den Plan, den<lb/>
er selbst ausarbeiten half und billigte, seine Stellung nicht aufgab und dadurch<lb/>
die erste Verwirrung in der Negierung hervorrief. Aber dieser &#x201E;Verrath" hatte<lb/>
seinen Ursprung nicht in dem bösen Willen, das Zutrauen einer Nation zu selbst¬<lb/>
süchtigen Zwecken zu mißbrauchen, sondern in der Selbstüberschätzung eines vom<lb/>
Glück verzogenen Soldaten, und in dem Mangel an politischer Einsicht. Görgey<lb/>
wollte die Regierung, welche die verhaßten Polen bevorzugte, durch Soldateuin-<lb/>
triguen discreditiren zu einer Zeit, wo diese allmächtig sein oder gestürzt werden<lb/>
mußte. Die Pole» zu dulden, hatte er nicht genug patriotische Selbstverleugnung,<lb/>
die Regierung zu stürzen, fehlte es ihm an Genie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_741" next="#ID_742"> Hier zeigt uns die Geschichte wieder, daß, wenn Despotien Jahrhunderte<lb/>
lang unter Soldaten- und Maitressenherrschaft bestehen können, ein freier Staat<lb/>
ununterbrochen von Charakteren getragen werden muß. Epaminondas vernichtet<lb/>
die Spartaner bei Leuctra und erhebt seiue bedeutungslose Vaterstadt zur Hegemonie<lb/>
von Griechenland: die Thebaner tragen auf Todesstrafe gegen ihn an, weil er die Zeit<lb/>
seiner Vollmacht übertreten hat; &#x2014; Görgey verhöhnt die Regierung von 10 Mil¬<lb/>
lionen Menschen, indem er ihren Gesandten verspricht, zu kommen und dennoch<lb/>
bleibt, und nach einigen Tagen kündigt diese Negierung dem Volke in einem rie¬<lb/>
senhaften Maueranschlag den Sieg Görgey's bei Szöny an und erschöpft sich in<lb/>
Lobeserhebung über die Tapferkeit des meuterischen Soldaten. &#x2014; Wohl ist dies</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0234] alte Gleis seiner Pflichten zurückgezogen. Uebrigens möchte ich nicht behaupten, daß das Fortbestehen dieses patriarchalischen Verhältnisses von Dauer und daß der gegenwärtige Zustand mehr sei als ein Hantüberzug über einer »«geheilten Wunde. Haben doch einzelne Edelleute selbst nach dem fürchterlichen Bauernauf¬ stand ihr auffahrendes Wesen nicht ablegen können und in derselben Nacht, wo in unserem Dorf der Bauer in der Schenke den Branntwein des gastlichen Edel¬ manns trank, brannte an der kleinen Wisloka ein Edelsitz nieder, den die Bauern angesteckt hatten. — Ein Urtheil über Görgey. Gestalten Sie jetzt, wo Alles über den ungarischen Krieg und Görgey schreibt, einem Fremden, der das unglücklichste Kind des ungarischen Gottes seit seiner Jugend gekannt hat, eine Bemerkung über ihn. Ueber das Verfahren Görgey's kann kaum mehr ein Zweifel übrig blei¬ ben'; sein „Verrath" beginnt nicht bei Vilagos, noch da, wo er zuerst mit den Russen zu unterhandeln anfing, sondern bei Komorn, wo er gegen den Plan, den er selbst ausarbeiten half und billigte, seine Stellung nicht aufgab und dadurch die erste Verwirrung in der Negierung hervorrief. Aber dieser „Verrath" hatte seinen Ursprung nicht in dem bösen Willen, das Zutrauen einer Nation zu selbst¬ süchtigen Zwecken zu mißbrauchen, sondern in der Selbstüberschätzung eines vom Glück verzogenen Soldaten, und in dem Mangel an politischer Einsicht. Görgey wollte die Regierung, welche die verhaßten Polen bevorzugte, durch Soldateuin- triguen discreditiren zu einer Zeit, wo diese allmächtig sein oder gestürzt werden mußte. Die Pole» zu dulden, hatte er nicht genug patriotische Selbstverleugnung, die Regierung zu stürzen, fehlte es ihm an Genie. Hier zeigt uns die Geschichte wieder, daß, wenn Despotien Jahrhunderte lang unter Soldaten- und Maitressenherrschaft bestehen können, ein freier Staat ununterbrochen von Charakteren getragen werden muß. Epaminondas vernichtet die Spartaner bei Leuctra und erhebt seiue bedeutungslose Vaterstadt zur Hegemonie von Griechenland: die Thebaner tragen auf Todesstrafe gegen ihn an, weil er die Zeit seiner Vollmacht übertreten hat; — Görgey verhöhnt die Regierung von 10 Mil¬ lionen Menschen, indem er ihren Gesandten verspricht, zu kommen und dennoch bleibt, und nach einigen Tagen kündigt diese Negierung dem Volke in einem rie¬ senhaften Maueranschlag den Sieg Görgey's bei Szöny an und erschöpft sich in Lobeserhebung über die Tapferkeit des meuterischen Soldaten. — Wohl ist dies

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/234
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/234>, abgerufen am 04.07.2024.