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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Berthold" Auerbach, Jeremias Gotthelf u. s. w. gewöhnte man sich wenigstens
daran, mit Menschen umzugehen, die noch eine andere Beschäftigung hatten, als
die Lectüre der Modejournale und die Fabrik von Sonetten an Blaustrümpfe;
eine festere, concretere Bestimmtheit, als die vorübergehende Tendenz einer poeti¬
schen Doctrin. Man gewöhnte sich daran, die Charaktere, die mau bisher nur
in liederlich genialer Skizze entworfen, in breiter äußerlicher Explication zu ver¬
folgen. Daß in dieser, mit harter Arbeit wiedcrerkämpften Naivität viel bewu߬
tes lag, war uicht zu vermeiden, da man den häßlichen Gegensatz beständig vor
Augen hatte. -- Nicht minder charakteristisch, obgleich der Poesie ferner liegend,
war die neue Wendung der kritischen Wissenschaft. Von den leeren Hirngespinn-
sten des subjectiven Idealismus hatte schon Hegel die Philosophie entfernt, er
hatte große Aussichten nach allen Seiten hin eröffnet, und den analytischen Ver¬
stand vor dem Irrthum gewarnt, die Geheimnisse des Lebens bei den Todten,
in den zerrissenen Gliedern des Lebendigen zu suchen. Aber seine Schule hatte
eben durch ihre Universalität das dilettantische Wesen, die Halbbildung und die
Oberflächlichkeit im Produciren wie im Denken befördert, sie bot das Buch der
Weisheit in ein paar Paragraphen für einen wohlfeilen Preis feil, und bescheerte
die frühreifen Früchte, ohne den Schweiß des Angesichts, der ihnen allein Ge¬
deihen gibt. Sie war durch einzelne Erfolge so angeschwollen in ihrem Dünkel,
daß sie sich mit Gott und der Welt vollkommen im Reinen glaubte. Hier nun
gebührt der jüngern Schule eine bleibende Anerkennung. Man pflegt bei Strauß,
Feuerbach, Bischer u. s. w. nur aus das Resultat zu achten, das in seiner ab-
stracten Form als bequeme Scheidemünze von jungen Studenten mit großem Leicht¬
sinn ausgegeben wird, das ist aber ihr geringstes Verdienst, die Hauptsache ist,
daß sie gezeigt haben, wie man sich mit fast ängstlicher Gewissenhaftigkeit in das
Detail vertiefen kann, ohne das große Princip aus den Augen zu verlieren.
Diese Analyse des Gedankens hat der Geschichte eine neue Welt erobert. Mehr
oder minder im Zusammenhang mit dieser kritischen Tendenz hat man dann nach
allen Seiten hin in den Schacht der Vergangenheit gegraben; man hat den Natur¬
wuchs der sittlichen Ideen belauscht, und den Geist, der seinen Ursprung vergessen
hatte, durch die Vermittelung seiner Vergangenheit zu sich selbst geführt. --
Diese Schätze sind aber dann erst fruchtbar geworden, als man sich in der Gegen¬
wart zu Hause faud. Die Revolution hat das Recht, das Staatswesen und
selbst das Privatleben aus den verschlossenen Aktenstuben wieder auf den Markt
geführt; Gesetz, Verfassung, Moralität erschöpft sich nicht mehr in allgemeinen
Formeln, die man nach dem sogenannten gesunden Menschenverstand in seinen
Mußestunden ox -lePw et domo sich zurechtlegt, sondern es explicire, sich in be¬
stimmten, concreten Vorstellungen, es wächst in das unmittelbar gegenwärtige
Leben hinein, und man fühlt lebendig, was man sonst mit unreifem Räsonnement
sich ausgeklügelt hat. Diese Ausbreitung und Vertiefung der sittlichen Ideen in


Berthold» Auerbach, Jeremias Gotthelf u. s. w. gewöhnte man sich wenigstens
daran, mit Menschen umzugehen, die noch eine andere Beschäftigung hatten, als
die Lectüre der Modejournale und die Fabrik von Sonetten an Blaustrümpfe;
eine festere, concretere Bestimmtheit, als die vorübergehende Tendenz einer poeti¬
schen Doctrin. Man gewöhnte sich daran, die Charaktere, die mau bisher nur
in liederlich genialer Skizze entworfen, in breiter äußerlicher Explication zu ver¬
folgen. Daß in dieser, mit harter Arbeit wiedcrerkämpften Naivität viel bewu߬
tes lag, war uicht zu vermeiden, da man den häßlichen Gegensatz beständig vor
Augen hatte. — Nicht minder charakteristisch, obgleich der Poesie ferner liegend,
war die neue Wendung der kritischen Wissenschaft. Von den leeren Hirngespinn-
sten des subjectiven Idealismus hatte schon Hegel die Philosophie entfernt, er
hatte große Aussichten nach allen Seiten hin eröffnet, und den analytischen Ver¬
stand vor dem Irrthum gewarnt, die Geheimnisse des Lebens bei den Todten,
in den zerrissenen Gliedern des Lebendigen zu suchen. Aber seine Schule hatte
eben durch ihre Universalität das dilettantische Wesen, die Halbbildung und die
Oberflächlichkeit im Produciren wie im Denken befördert, sie bot das Buch der
Weisheit in ein paar Paragraphen für einen wohlfeilen Preis feil, und bescheerte
die frühreifen Früchte, ohne den Schweiß des Angesichts, der ihnen allein Ge¬
deihen gibt. Sie war durch einzelne Erfolge so angeschwollen in ihrem Dünkel,
daß sie sich mit Gott und der Welt vollkommen im Reinen glaubte. Hier nun
gebührt der jüngern Schule eine bleibende Anerkennung. Man pflegt bei Strauß,
Feuerbach, Bischer u. s. w. nur aus das Resultat zu achten, das in seiner ab-
stracten Form als bequeme Scheidemünze von jungen Studenten mit großem Leicht¬
sinn ausgegeben wird, das ist aber ihr geringstes Verdienst, die Hauptsache ist,
daß sie gezeigt haben, wie man sich mit fast ängstlicher Gewissenhaftigkeit in das
Detail vertiefen kann, ohne das große Princip aus den Augen zu verlieren.
Diese Analyse des Gedankens hat der Geschichte eine neue Welt erobert. Mehr
oder minder im Zusammenhang mit dieser kritischen Tendenz hat man dann nach
allen Seiten hin in den Schacht der Vergangenheit gegraben; man hat den Natur¬
wuchs der sittlichen Ideen belauscht, und den Geist, der seinen Ursprung vergessen
hatte, durch die Vermittelung seiner Vergangenheit zu sich selbst geführt. —
Diese Schätze sind aber dann erst fruchtbar geworden, als man sich in der Gegen¬
wart zu Hause faud. Die Revolution hat das Recht, das Staatswesen und
selbst das Privatleben aus den verschlossenen Aktenstuben wieder auf den Markt
geführt; Gesetz, Verfassung, Moralität erschöpft sich nicht mehr in allgemeinen
Formeln, die man nach dem sogenannten gesunden Menschenverstand in seinen
Mußestunden ox -lePw et domo sich zurechtlegt, sondern es explicire, sich in be¬
stimmten, concreten Vorstellungen, es wächst in das unmittelbar gegenwärtige
Leben hinein, und man fühlt lebendig, was man sonst mit unreifem Räsonnement
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/19>, abgerufen am 24.07.2024.