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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Schickliche bis auf den Grund verkehrt war, brach auch jene geistige Energie, die
allein im Stande ist, einen Gedanken, einen Plan, einen Zweck festzuhalten und
in künstlerischer Fülle auszubreiten. Der liederliche Charakter der Faustliteratur
verräth nicht weniger Barbarei des Geschmacks als sittliche Impotenz. Jener
geistreiche Dilettantismus, der nur so lange sich in seiner Höhe fühlte, als er un¬
zugänglich war, der das Volk verachtete, weil er auf es einzuwirken nicht ver¬
stand, machte aus der Wissenschaft ein Gewebe poetischer Einfälle, ans der Kunst
eine Mosaik philosophischer Reminiscenzen. Durch diese Verwirrung der Grenzen
wird der Zweck der Kunst, zu gestalten, ebenso vereitelt als der Zweck der Wissen¬
schaft, zu denken. In der ewigen Unruhe des Zweiselns, des Suchens, der Be¬
gierde und der Furcht, verschwammen die Charaktere in's Unbestimmte, und die
Bewegung des sittlichen Gedankens verlor ihren gemessenen Lauf. -- Von dieser
Seite eröffnete sich den Märzdichtern der erfolgreichste Wirkungskreis, allein sie
verstanden ihn nicht zu benutzen, denn der neue Geist verlangt eine neue Form,
und sie hatten nnr die Reminiscenzen der alten Schillerschen Schule. In der
Kunst so wenig als in dem öffentlichen Leben führt ein Weg in eine bereits über¬
wundene Weltanschauung zurück.

Wenn ich also das Facit aus dieser Rechnung ziehe, so heißt die Formel,
durch welche eine Wiedergeburt der deutschen Poesie allein bewirkt werden kann:
Aufheben des Dilettantismus; freilich nicht allein in der Kunst, sondern
auch im Leben und im Denken. Ich bemerke gleich bei dieser Gelegenheit, daß
die erste Phase unserer Revolution auf den Ernst der Kunst keineswegs günstig
einwirken konnte, denn sie war nichts anderes, als ein in's Große getriebener
politischer Dilettantismus, eine Herrschaft der Phrase, wie sie in dem Maß noch
selten in der Geschichte aufgetreten ist. Daher ist die eigentliche Märzpoesie, die
mit der politischen Bewegung Hand in Hand ging, noch viel haltloser, trüber,
unsittlicher, als selbst jene Kunst, über welche sie sich durch den Schwung einer
neuen Begeisterung zu erheben glaubte. Seit der Zeit hat sich die bittre Noth¬
wendigkeit in das Reich der politischen Träume eingeführt, und nun es Ernst
wird, ziehn sich die Dilettanten allmälig vou einem Felde zurück, dessen sie nicht
mehr mächtig sind. Wer jetzt das Wort führen will, von dem erwartet man, daß
er von der Sache etwas verstehe.

Diese Sammlung, die im Gegensatz zu der Zerstreutheit der vorigen Jahre
deutlich genug hervortritt, war nothwendig, wenn die Kunst einen Inhalt ge¬
winnen sollte. Denn an Gegenständen hat es nie gefehlt, es kam nur darauf
an, daß der Dichter sich auf einen bestimmten concentrirte, und ihm Liebe genug
zu Theil werden ließ, um ihn eines ernsthaften Studiums zu würdigen. Ein er¬
freuliches Zeichen der Sehnsucht nach Realität, nach ursprünglichem, festem Leben
war der Erfolg unserer jungen idyllischen Poesie. Bei den Dorfgeschichten von


Schickliche bis auf den Grund verkehrt war, brach auch jene geistige Energie, die
allein im Stande ist, einen Gedanken, einen Plan, einen Zweck festzuhalten und
in künstlerischer Fülle auszubreiten. Der liederliche Charakter der Faustliteratur
verräth nicht weniger Barbarei des Geschmacks als sittliche Impotenz. Jener
geistreiche Dilettantismus, der nur so lange sich in seiner Höhe fühlte, als er un¬
zugänglich war, der das Volk verachtete, weil er auf es einzuwirken nicht ver¬
stand, machte aus der Wissenschaft ein Gewebe poetischer Einfälle, ans der Kunst
eine Mosaik philosophischer Reminiscenzen. Durch diese Verwirrung der Grenzen
wird der Zweck der Kunst, zu gestalten, ebenso vereitelt als der Zweck der Wissen¬
schaft, zu denken. In der ewigen Unruhe des Zweiselns, des Suchens, der Be¬
gierde und der Furcht, verschwammen die Charaktere in's Unbestimmte, und die
Bewegung des sittlichen Gedankens verlor ihren gemessenen Lauf. — Von dieser
Seite eröffnete sich den Märzdichtern der erfolgreichste Wirkungskreis, allein sie
verstanden ihn nicht zu benutzen, denn der neue Geist verlangt eine neue Form,
und sie hatten nnr die Reminiscenzen der alten Schillerschen Schule. In der
Kunst so wenig als in dem öffentlichen Leben führt ein Weg in eine bereits über¬
wundene Weltanschauung zurück.

Wenn ich also das Facit aus dieser Rechnung ziehe, so heißt die Formel,
durch welche eine Wiedergeburt der deutschen Poesie allein bewirkt werden kann:
Aufheben des Dilettantismus; freilich nicht allein in der Kunst, sondern
auch im Leben und im Denken. Ich bemerke gleich bei dieser Gelegenheit, daß
die erste Phase unserer Revolution auf den Ernst der Kunst keineswegs günstig
einwirken konnte, denn sie war nichts anderes, als ein in's Große getriebener
politischer Dilettantismus, eine Herrschaft der Phrase, wie sie in dem Maß noch
selten in der Geschichte aufgetreten ist. Daher ist die eigentliche Märzpoesie, die
mit der politischen Bewegung Hand in Hand ging, noch viel haltloser, trüber,
unsittlicher, als selbst jene Kunst, über welche sie sich durch den Schwung einer
neuen Begeisterung zu erheben glaubte. Seit der Zeit hat sich die bittre Noth¬
wendigkeit in das Reich der politischen Träume eingeführt, und nun es Ernst
wird, ziehn sich die Dilettanten allmälig vou einem Felde zurück, dessen sie nicht
mehr mächtig sind. Wer jetzt das Wort führen will, von dem erwartet man, daß
er von der Sache etwas verstehe.

Diese Sammlung, die im Gegensatz zu der Zerstreutheit der vorigen Jahre
deutlich genug hervortritt, war nothwendig, wenn die Kunst einen Inhalt ge¬
winnen sollte. Denn an Gegenständen hat es nie gefehlt, es kam nur darauf
an, daß der Dichter sich auf einen bestimmten concentrirte, und ihm Liebe genug
zu Theil werden ließ, um ihn eines ernsthaften Studiums zu würdigen. Ein er¬
freuliches Zeichen der Sehnsucht nach Realität, nach ursprünglichem, festem Leben
war der Erfolg unserer jungen idyllischen Poesie. Bei den Dorfgeschichten von


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[0018] Schickliche bis auf den Grund verkehrt war, brach auch jene geistige Energie, die allein im Stande ist, einen Gedanken, einen Plan, einen Zweck festzuhalten und in künstlerischer Fülle auszubreiten. Der liederliche Charakter der Faustliteratur verräth nicht weniger Barbarei des Geschmacks als sittliche Impotenz. Jener geistreiche Dilettantismus, der nur so lange sich in seiner Höhe fühlte, als er un¬ zugänglich war, der das Volk verachtete, weil er auf es einzuwirken nicht ver¬ stand, machte aus der Wissenschaft ein Gewebe poetischer Einfälle, ans der Kunst eine Mosaik philosophischer Reminiscenzen. Durch diese Verwirrung der Grenzen wird der Zweck der Kunst, zu gestalten, ebenso vereitelt als der Zweck der Wissen¬ schaft, zu denken. In der ewigen Unruhe des Zweiselns, des Suchens, der Be¬ gierde und der Furcht, verschwammen die Charaktere in's Unbestimmte, und die Bewegung des sittlichen Gedankens verlor ihren gemessenen Lauf. — Von dieser Seite eröffnete sich den Märzdichtern der erfolgreichste Wirkungskreis, allein sie verstanden ihn nicht zu benutzen, denn der neue Geist verlangt eine neue Form, und sie hatten nnr die Reminiscenzen der alten Schillerschen Schule. In der Kunst so wenig als in dem öffentlichen Leben führt ein Weg in eine bereits über¬ wundene Weltanschauung zurück. Wenn ich also das Facit aus dieser Rechnung ziehe, so heißt die Formel, durch welche eine Wiedergeburt der deutschen Poesie allein bewirkt werden kann: Aufheben des Dilettantismus; freilich nicht allein in der Kunst, sondern auch im Leben und im Denken. Ich bemerke gleich bei dieser Gelegenheit, daß die erste Phase unserer Revolution auf den Ernst der Kunst keineswegs günstig einwirken konnte, denn sie war nichts anderes, als ein in's Große getriebener politischer Dilettantismus, eine Herrschaft der Phrase, wie sie in dem Maß noch selten in der Geschichte aufgetreten ist. Daher ist die eigentliche Märzpoesie, die mit der politischen Bewegung Hand in Hand ging, noch viel haltloser, trüber, unsittlicher, als selbst jene Kunst, über welche sie sich durch den Schwung einer neuen Begeisterung zu erheben glaubte. Seit der Zeit hat sich die bittre Noth¬ wendigkeit in das Reich der politischen Träume eingeführt, und nun es Ernst wird, ziehn sich die Dilettanten allmälig vou einem Felde zurück, dessen sie nicht mehr mächtig sind. Wer jetzt das Wort führen will, von dem erwartet man, daß er von der Sache etwas verstehe. Diese Sammlung, die im Gegensatz zu der Zerstreutheit der vorigen Jahre deutlich genug hervortritt, war nothwendig, wenn die Kunst einen Inhalt ge¬ winnen sollte. Denn an Gegenständen hat es nie gefehlt, es kam nur darauf an, daß der Dichter sich auf einen bestimmten concentrirte, und ihm Liebe genug zu Theil werden ließ, um ihn eines ernsthaften Studiums zu würdigen. Ein er¬ freuliches Zeichen der Sehnsucht nach Realität, nach ursprünglichem, festem Leben war der Erfolg unserer jungen idyllischen Poesie. Bei den Dorfgeschichten von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/18>, abgerufen am 20.06.2024.