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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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das Detail des wirklichen Lebens ist die nothwendige, die einzige Grundlage einer
echten und großen Poesie.

Denn sie gibt ihr nicht allein den Inhalt, sie verleiht ihr auch den Cha¬
rakter., Wenn sonst eine bessere Natur über die molluskenartigen Figuren der
jungdeutschen Poesie sich erheben wollte, so ersetzte er die fehlende Energie durch
Härte und Eigensinn, und schuf Petrefacten an Stelle lebendiger Wesen. So ist
es bei Hebbel, dessen löbliche Intentionen durch diesen noch in seinem Gegensatz
befangenen Trotz zu den wunderlichsten Abwegen verleitet sind. Die furchtbare
Erschütterung des vorigen Jahres -- furchtbar, weil sie mit unerbittlichem Ernst
die schönsten Illusionen zerschlagen hat -- wird heilsam ans die Nerven unserer
Dichter w'rken. Die Phrase hat sich selber widerlegt; sie kann das zaghafte Gewissen
nicht mehr beruhigen. Auch nicht jene Form der Festigkeit, die heute sagt, was sie
gestern sagte, weil sie es gestern gesagt hat. Man fordert von seinen Helden eine leben¬
dige Gesinnung, die in dem Wechsel der Verhältnisse sich nicht verliert; sie dürfen sich
nicht mehr an die sogenannte Idee anlehnen, weil diese sich wankend gezeigt hat, ihr
eigenes Herz soll der Stamm sein, um welchen die Ideen sich ranken. Solche
Heldenbilder wird man nunmehr auch von der Dichtung verlangen. Die Parteien
zerschlagen den unfruchtbaren Eigensinn des Einzelnen, sie gewöhnen ihn an die
Idee des Opfers, sie halten ihn in der Zweckthätigkeit fest, sie erfüllen ihn mit
jenem höhern Begriff der Ehre, der nicht den Einzelnen gegen den Einzelnen,
sondern den Einzelnen als Glied eines großen Ganzen geltend macht. Sie bringen
endlich in ihrem Kampf, in dem sie einander nicht schonen, jene allgemeine, über
alle Sophistik und Caprice erhabene Gesinnung hervor, welche die Substanz des
Staats ist, und zugleich die .einzige solide sittliche Basis, ohne welche ein wahrhaft
tragischer Konflikt, ohne welche aber auch ein objectiver Humor nicht gedacht werden
kann, weil die von ihrer Grundlage abgelöste Leidenschaft zur rohen, subjectiven
Willkür, zum ohnmächtigen Gelüste, ja geradezu zum Wahnsinn ausartet, denn
vollständiges Isoliren des Denkens und Wollens ist Wahnsinn, und weil der
von dem Ernst der Wirklichkeit vollkommen losgetrennte Scherz sich zu einer leeren
Frazze verzerrt.

Kaum ist es nöthig, noch die Form zu erwähnen. Die Formlosigkeit un¬
serer Kunst hing eng zusammen mit der Scheidung der sogenannten geistreichen
Poeten von den populären. Diesen kam es nur darauf an, gelesen und gespielt
zu werden, sie schmeichelten der Masse und gebärdeten sich so unverständig als
ihr Publikum selbst; jene summten ihre Visionen vor sich hin, wie Zufall und
Stimmung es mit sich brachte. Gegen diese willkürliche Absonderung, welche
namentlich den Verfall der deutschen Bühne nach sich gezogen hat, ist schon der
Ehrgeiz unserer jüngeren Dichter ein sehr gutes Palliativ gewesen; seit Gutzkow
und Laube gilt es nicht mehr für gemein, sich den Bedürfnissen des Theaters
anzubequemen. Allein das Drama hat in der Regel auch in diesem Fall noch


das Detail des wirklichen Lebens ist die nothwendige, die einzige Grundlage einer
echten und großen Poesie.

Denn sie gibt ihr nicht allein den Inhalt, sie verleiht ihr auch den Cha¬
rakter., Wenn sonst eine bessere Natur über die molluskenartigen Figuren der
jungdeutschen Poesie sich erheben wollte, so ersetzte er die fehlende Energie durch
Härte und Eigensinn, und schuf Petrefacten an Stelle lebendiger Wesen. So ist
es bei Hebbel, dessen löbliche Intentionen durch diesen noch in seinem Gegensatz
befangenen Trotz zu den wunderlichsten Abwegen verleitet sind. Die furchtbare
Erschütterung des vorigen Jahres — furchtbar, weil sie mit unerbittlichem Ernst
die schönsten Illusionen zerschlagen hat — wird heilsam ans die Nerven unserer
Dichter w'rken. Die Phrase hat sich selber widerlegt; sie kann das zaghafte Gewissen
nicht mehr beruhigen. Auch nicht jene Form der Festigkeit, die heute sagt, was sie
gestern sagte, weil sie es gestern gesagt hat. Man fordert von seinen Helden eine leben¬
dige Gesinnung, die in dem Wechsel der Verhältnisse sich nicht verliert; sie dürfen sich
nicht mehr an die sogenannte Idee anlehnen, weil diese sich wankend gezeigt hat, ihr
eigenes Herz soll der Stamm sein, um welchen die Ideen sich ranken. Solche
Heldenbilder wird man nunmehr auch von der Dichtung verlangen. Die Parteien
zerschlagen den unfruchtbaren Eigensinn des Einzelnen, sie gewöhnen ihn an die
Idee des Opfers, sie halten ihn in der Zweckthätigkeit fest, sie erfüllen ihn mit
jenem höhern Begriff der Ehre, der nicht den Einzelnen gegen den Einzelnen,
sondern den Einzelnen als Glied eines großen Ganzen geltend macht. Sie bringen
endlich in ihrem Kampf, in dem sie einander nicht schonen, jene allgemeine, über
alle Sophistik und Caprice erhabene Gesinnung hervor, welche die Substanz des
Staats ist, und zugleich die .einzige solide sittliche Basis, ohne welche ein wahrhaft
tragischer Konflikt, ohne welche aber auch ein objectiver Humor nicht gedacht werden
kann, weil die von ihrer Grundlage abgelöste Leidenschaft zur rohen, subjectiven
Willkür, zum ohnmächtigen Gelüste, ja geradezu zum Wahnsinn ausartet, denn
vollständiges Isoliren des Denkens und Wollens ist Wahnsinn, und weil der
von dem Ernst der Wirklichkeit vollkommen losgetrennte Scherz sich zu einer leeren
Frazze verzerrt.

Kaum ist es nöthig, noch die Form zu erwähnen. Die Formlosigkeit un¬
serer Kunst hing eng zusammen mit der Scheidung der sogenannten geistreichen
Poeten von den populären. Diesen kam es nur darauf an, gelesen und gespielt
zu werden, sie schmeichelten der Masse und gebärdeten sich so unverständig als
ihr Publikum selbst; jene summten ihre Visionen vor sich hin, wie Zufall und
Stimmung es mit sich brachte. Gegen diese willkürliche Absonderung, welche
namentlich den Verfall der deutschen Bühne nach sich gezogen hat, ist schon der
Ehrgeiz unserer jüngeren Dichter ein sehr gutes Palliativ gewesen; seit Gutzkow
und Laube gilt es nicht mehr für gemein, sich den Bedürfnissen des Theaters
anzubequemen. Allein das Drama hat in der Regel auch in diesem Fall noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/20>, abgerufen am 20.06.2024.