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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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wegung zu sehen, alle Gefühle und Leidenschaften der Charaktere in ihrem Ur¬
sprünge, Verlauf und ihren Folgen so zu empfinden, wie sie an den bestimmten
Individuen zur Erscheinung kommen, nicht nur in Worten, sondern auch
in den Pausen der Rede, dem Thun der Personen, in allen möglichen
Aeußerungen, welche dem Charakter entsprechend und für die Wirkung auf den
Zuschauer zweckmäßig sind. Je deutlicher sich der Charakter der Person in den
Worten ausdrückt, je genauer empfunden das Detail der Bewegungen und kleinen
Züge ist, in welchen sich die Stimmung des Individuums äußert, desto größer
wird der Eindruck, welchen die Darstellung der Bühne auf uns macht. Man
zerlege z. B. die Mordscene im Macbeth: die Vision des Dolches, die kalte Be¬
obachtung seiner selbst in der schaudervollen Situation, das Schlagen der Glocke,
-- die Starrheit nach der That, sein Grübeln über das "Amen", die durchbre¬
chende kurze Klage: Macbeth wird nicht schlafen mehr, und das Erschrecken
seiner erschlafften Nerven. Das ist jenes Detail der charakteristischen Anschauun¬
gen, welches eine der größten Scenen des größten Dichters dramatisch macht.
Uns Deutschen ist wenig gegeben, das Individuum in dem Detail seiner Er¬
scheinung zu genießen, und die Kraft, dasselbe darzustellen, ist bei uus-selten ge¬
nug, es fehlt uns nicht an Energie der Empfindung, wohl aber an Klarheit und
Kraft der Anschauungen; beobachten wir doch auch ein Leben unsichrer und un¬
deutlicher als die Engländer.

Dazu kommt als dritte Eigenschaft Kenntniß der Technik, des Zweckmäßiger
und Nothwendigen im Ba>l des Dramas. Diese Kenntniß kann für die Poeten,
welche nicht selbst Schauspieler sind, nur durch Lehre oder langes mühsames
Selbststudium gewonnen werden. Das künstlerisch gebildete Drama ist in seiner
Art ein ebenso schwieriges Gebäude, als etwa ein gothisches Gewölbe oder ein grie¬
chischer Tempel; es fällt Niemandem ein, ein architektonisches Kunstwerk zu con-
struiren, wenn er nicht die Baukunst gelernt hat, Theaterstücke aber schreibt man
in Deutschland noch immer auf gut Glück mich den unklaren Eindrücken und man¬
gelhaften Vorstellungen, welche man aus der Aufführung vorhandener Bühnenstücke
nach Hause trägt. --

Wir haben in Deutschland gegenwärtig keinen Menschen, welcher den Beweis
geführt hat, daß er die erwähnten drei Eigenschaften eines guten Theaterschrist¬
stellers in bedeutendem Maße besitze. Um so mehr ziemt es der Kritik, neue
Talente mit Aufmerksamkeit und Wohlwollen zu behandeln. Aber, wohl gemerkt,
dies Wohlwollen darf keine Beschönigung der Schwächen oder Fehler werden.
Wenn wir zu Etwas kommen wollen in unserem deutschen Leben und unserer
Kunst, so ist vor Allem nothwendig, daß wir einander ehrlich und rücksichtslos
die Wahrheit sagen, und in der Kritik all das kindische und geckenhafte Gefasel,
jenes witzlose Geistreichthun und das Ableiern unverständlicher Phrasen, hinter
welchen sich die klägliche Unwissenheit versteckt, das Lobhudeln und in den Schmutz


wegung zu sehen, alle Gefühle und Leidenschaften der Charaktere in ihrem Ur¬
sprünge, Verlauf und ihren Folgen so zu empfinden, wie sie an den bestimmten
Individuen zur Erscheinung kommen, nicht nur in Worten, sondern auch
in den Pausen der Rede, dem Thun der Personen, in allen möglichen
Aeußerungen, welche dem Charakter entsprechend und für die Wirkung auf den
Zuschauer zweckmäßig sind. Je deutlicher sich der Charakter der Person in den
Worten ausdrückt, je genauer empfunden das Detail der Bewegungen und kleinen
Züge ist, in welchen sich die Stimmung des Individuums äußert, desto größer
wird der Eindruck, welchen die Darstellung der Bühne auf uns macht. Man
zerlege z. B. die Mordscene im Macbeth: die Vision des Dolches, die kalte Be¬
obachtung seiner selbst in der schaudervollen Situation, das Schlagen der Glocke,
— die Starrheit nach der That, sein Grübeln über das „Amen", die durchbre¬
chende kurze Klage: Macbeth wird nicht schlafen mehr, und das Erschrecken
seiner erschlafften Nerven. Das ist jenes Detail der charakteristischen Anschauun¬
gen, welches eine der größten Scenen des größten Dichters dramatisch macht.
Uns Deutschen ist wenig gegeben, das Individuum in dem Detail seiner Er¬
scheinung zu genießen, und die Kraft, dasselbe darzustellen, ist bei uus-selten ge¬
nug, es fehlt uns nicht an Energie der Empfindung, wohl aber an Klarheit und
Kraft der Anschauungen; beobachten wir doch auch ein Leben unsichrer und un¬
deutlicher als die Engländer.

Dazu kommt als dritte Eigenschaft Kenntniß der Technik, des Zweckmäßiger
und Nothwendigen im Ba>l des Dramas. Diese Kenntniß kann für die Poeten,
welche nicht selbst Schauspieler sind, nur durch Lehre oder langes mühsames
Selbststudium gewonnen werden. Das künstlerisch gebildete Drama ist in seiner
Art ein ebenso schwieriges Gebäude, als etwa ein gothisches Gewölbe oder ein grie¬
chischer Tempel; es fällt Niemandem ein, ein architektonisches Kunstwerk zu con-
struiren, wenn er nicht die Baukunst gelernt hat, Theaterstücke aber schreibt man
in Deutschland noch immer auf gut Glück mich den unklaren Eindrücken und man¬
gelhaften Vorstellungen, welche man aus der Aufführung vorhandener Bühnenstücke
nach Hause trägt. —

Wir haben in Deutschland gegenwärtig keinen Menschen, welcher den Beweis
geführt hat, daß er die erwähnten drei Eigenschaften eines guten Theaterschrist¬
stellers in bedeutendem Maße besitze. Um so mehr ziemt es der Kritik, neue
Talente mit Aufmerksamkeit und Wohlwollen zu behandeln. Aber, wohl gemerkt,
dies Wohlwollen darf keine Beschönigung der Schwächen oder Fehler werden.
Wenn wir zu Etwas kommen wollen in unserem deutschen Leben und unserer
Kunst, so ist vor Allem nothwendig, daß wir einander ehrlich und rücksichtslos
die Wahrheit sagen, und in der Kritik all das kindische und geckenhafte Gefasel,
jenes witzlose Geistreichthun und das Ableiern unverständlicher Phrasen, hinter
welchen sich die klägliche Unwissenheit versteckt, das Lobhudeln und in den Schmutz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/141>, abgerufen am 04.07.2024.