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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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eine grenzenlose Verwirrung, in den Predigten, wie in den religiösen Kompen¬
dien wird noch immer eine Empfindungsweise, ein Rechtsprincip und eine Welt¬
anschauung vorgetragen, die mit dem Herzen, dem Verstände und der Bildung
in diametralen Widerspruch steht. Es wäre ein thörichtes Vorurtheil von der
Kritik, wenn sie durch einfaches Aussprechen der Wahrheit die Lüge zu vernichten
glaubte. Sie muß das Voltairesche: Hcrase? I'Ins-une! den Kampf gegen die
Transcendenz des Guten in jedem Augenblick erneuen, aber sie darf es nicht mit
frivoler Nachsicht gegen die liebenswürdigen Schwächen einer holden Illusion, sie
wird nur dann von Gewicht sein, wenn sie den heiligen Zorn gegen die Lüge mit
aller Gewalt einer sittlichen Idee im Herzen trägt. Die beiden letzten Jahre ha¬
ben ein wahres Chaos romantischer Illusionen zu Tage gefördert; znerst waren
es die hohlen Phrasen der Revolution, welche die vernünftige Entwicklung der
Geschichte verwirrten, heute ist es die Caprice im reactionären Heerlager, die
hohle Phrase von dem organischen Naturwuchs und dem göttlichen Recht der
Könige. Es ist schwächlich, aus diesem Kampf mit resignirter Erbitterung zu
weichen; der Haß gegen das Schlechte ist eine edle Leidenschaft, und der Kampf
gegen Ungeheuer schon an sich eine Lust, ganz abgesehen vom Erfolg.




Neue Dramatiker.



Zweierlei thut dem dramatischen Dichter vor Allem Noth. Zuerst ein Ge¬
müth, welches die Eindrücke der Welt unverzerrt, vollständig und klar wieder¬
spiegelt, sich leicht und mühelos den Empfindungen der Stunde hingibt und sich
leicht und unverwirrt aus denselben zurückzieht, sie richtig verstehend und heiter
übersehend. Solche glückliche Organisation der Seele, welche den Menschen aus
Leidenschaft und Unglück rettet, vor Selbstüberschätzung und Einseitigkeit bewahrt,
ist bei Tichtcru verhältnißmäßig noch seltener zu finden, als bei Solchen, welche
keine Kunst üben. Ueberall aber erfreut und verklärt sie den Lebenskreis, in wel¬
chem sie sichtbar wird; wir nennen solche Individualitäten, reine, selbstständige,
harmonische; wir empfinden die wohlthätige Einwirknng, welche sie auf uns aus¬
üben, und fragen uns selten nach dem Grunde derselben. Wäre die productive
Kraft Heinrichs von Kleist mit einer solchen Eigenthümlichkeit des Gemüths ver¬
bunden gewesen, hätte Lenau sie besessen, wäre Hebbel nicht so sehr fern davon,
so würden diese Namen eine ganz andere Bedeutung für unsere Literatur gewon¬
nen haben. Die zweite Gabe aber, welche der Dramatiker braucht, ist eine Eigen¬
thümlichkeit seiner schöpferischen Kraft: die Fähigkett, seine Gestalten in der Be-


eine grenzenlose Verwirrung, in den Predigten, wie in den religiösen Kompen¬
dien wird noch immer eine Empfindungsweise, ein Rechtsprincip und eine Welt¬
anschauung vorgetragen, die mit dem Herzen, dem Verstände und der Bildung
in diametralen Widerspruch steht. Es wäre ein thörichtes Vorurtheil von der
Kritik, wenn sie durch einfaches Aussprechen der Wahrheit die Lüge zu vernichten
glaubte. Sie muß das Voltairesche: Hcrase? I'Ins-une! den Kampf gegen die
Transcendenz des Guten in jedem Augenblick erneuen, aber sie darf es nicht mit
frivoler Nachsicht gegen die liebenswürdigen Schwächen einer holden Illusion, sie
wird nur dann von Gewicht sein, wenn sie den heiligen Zorn gegen die Lüge mit
aller Gewalt einer sittlichen Idee im Herzen trägt. Die beiden letzten Jahre ha¬
ben ein wahres Chaos romantischer Illusionen zu Tage gefördert; znerst waren
es die hohlen Phrasen der Revolution, welche die vernünftige Entwicklung der
Geschichte verwirrten, heute ist es die Caprice im reactionären Heerlager, die
hohle Phrase von dem organischen Naturwuchs und dem göttlichen Recht der
Könige. Es ist schwächlich, aus diesem Kampf mit resignirter Erbitterung zu
weichen; der Haß gegen das Schlechte ist eine edle Leidenschaft, und der Kampf
gegen Ungeheuer schon an sich eine Lust, ganz abgesehen vom Erfolg.




Neue Dramatiker.



Zweierlei thut dem dramatischen Dichter vor Allem Noth. Zuerst ein Ge¬
müth, welches die Eindrücke der Welt unverzerrt, vollständig und klar wieder¬
spiegelt, sich leicht und mühelos den Empfindungen der Stunde hingibt und sich
leicht und unverwirrt aus denselben zurückzieht, sie richtig verstehend und heiter
übersehend. Solche glückliche Organisation der Seele, welche den Menschen aus
Leidenschaft und Unglück rettet, vor Selbstüberschätzung und Einseitigkeit bewahrt,
ist bei Tichtcru verhältnißmäßig noch seltener zu finden, als bei Solchen, welche
keine Kunst üben. Ueberall aber erfreut und verklärt sie den Lebenskreis, in wel¬
chem sie sichtbar wird; wir nennen solche Individualitäten, reine, selbstständige,
harmonische; wir empfinden die wohlthätige Einwirknng, welche sie auf uns aus¬
üben, und fragen uns selten nach dem Grunde derselben. Wäre die productive
Kraft Heinrichs von Kleist mit einer solchen Eigenthümlichkeit des Gemüths ver¬
bunden gewesen, hätte Lenau sie besessen, wäre Hebbel nicht so sehr fern davon,
so würden diese Namen eine ganz andere Bedeutung für unsere Literatur gewon¬
nen haben. Die zweite Gabe aber, welche der Dramatiker braucht, ist eine Eigen¬
thümlichkeit seiner schöpferischen Kraft: die Fähigkett, seine Gestalten in der Be-


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[0140] eine grenzenlose Verwirrung, in den Predigten, wie in den religiösen Kompen¬ dien wird noch immer eine Empfindungsweise, ein Rechtsprincip und eine Welt¬ anschauung vorgetragen, die mit dem Herzen, dem Verstände und der Bildung in diametralen Widerspruch steht. Es wäre ein thörichtes Vorurtheil von der Kritik, wenn sie durch einfaches Aussprechen der Wahrheit die Lüge zu vernichten glaubte. Sie muß das Voltairesche: Hcrase? I'Ins-une! den Kampf gegen die Transcendenz des Guten in jedem Augenblick erneuen, aber sie darf es nicht mit frivoler Nachsicht gegen die liebenswürdigen Schwächen einer holden Illusion, sie wird nur dann von Gewicht sein, wenn sie den heiligen Zorn gegen die Lüge mit aller Gewalt einer sittlichen Idee im Herzen trägt. Die beiden letzten Jahre ha¬ ben ein wahres Chaos romantischer Illusionen zu Tage gefördert; znerst waren es die hohlen Phrasen der Revolution, welche die vernünftige Entwicklung der Geschichte verwirrten, heute ist es die Caprice im reactionären Heerlager, die hohle Phrase von dem organischen Naturwuchs und dem göttlichen Recht der Könige. Es ist schwächlich, aus diesem Kampf mit resignirter Erbitterung zu weichen; der Haß gegen das Schlechte ist eine edle Leidenschaft, und der Kampf gegen Ungeheuer schon an sich eine Lust, ganz abgesehen vom Erfolg. Neue Dramatiker. Zweierlei thut dem dramatischen Dichter vor Allem Noth. Zuerst ein Ge¬ müth, welches die Eindrücke der Welt unverzerrt, vollständig und klar wieder¬ spiegelt, sich leicht und mühelos den Empfindungen der Stunde hingibt und sich leicht und unverwirrt aus denselben zurückzieht, sie richtig verstehend und heiter übersehend. Solche glückliche Organisation der Seele, welche den Menschen aus Leidenschaft und Unglück rettet, vor Selbstüberschätzung und Einseitigkeit bewahrt, ist bei Tichtcru verhältnißmäßig noch seltener zu finden, als bei Solchen, welche keine Kunst üben. Ueberall aber erfreut und verklärt sie den Lebenskreis, in wel¬ chem sie sichtbar wird; wir nennen solche Individualitäten, reine, selbstständige, harmonische; wir empfinden die wohlthätige Einwirknng, welche sie auf uns aus¬ üben, und fragen uns selten nach dem Grunde derselben. Wäre die productive Kraft Heinrichs von Kleist mit einer solchen Eigenthümlichkeit des Gemüths ver¬ bunden gewesen, hätte Lenau sie besessen, wäre Hebbel nicht so sehr fern davon, so würden diese Namen eine ganz andere Bedeutung für unsere Literatur gewon¬ nen haben. Die zweite Gabe aber, welche der Dramatiker braucht, ist eine Eigen¬ thümlichkeit seiner schöpferischen Kraft: die Fähigkett, seine Gestalten in der Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/140>, abgerufen am 04.07.2024.