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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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glücklich waren, wenn sich ein Mann wie Gutzkow zum Handwerk rechnete, hat
eine solche Selbsttäuschung möglich gemacht.

Auch diesmal ist Gichkow überzeugt, eine neue Phase des Romans herbei¬
geführt zu haben. Er findet, dcH der alte Roman sich auf das "Nacheinander" -
beschränkt habe. "Der neue Roman ist der Roman des Nebeneinander.
Da liegt die ganze Welt! Da liegt die Zeit wie ein ausgespanntes Tuch! Da
begeguen sich Könige und Bettler! Die Menschen, die zu der erzählten Ge¬
schichte gehören, und die, die ihr nur eine wiederstrahlte Beleuchtung
geben. Der Stumme redet nun auch, der Abwesende spielt nun auch mit.
Das, was der Dichter sagen, schildern will, ist oft mir das, was zwischen zween
seiner Schilderungen als ein Drittes, dem Hörer Fühlbares, in Gott Ruhen¬
des, in der Mitte liegt. Nun fällt die Willkür der Erfindung fort. Kein
Abschnitt des Lebens mehr, der ganze, runde, volle Kreis liegt vor uns; der
Dichter baur eine Welt und stellt seine Beleuchtung der der Wirklichkeit gegen¬
über. Er sieht aus der Perspective des in den Lüften schwebenden Adlers herab.
Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, nen, eigen¬
thümlich, leider polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammen¬
gerückt. Resultat: Durch diese Behandlung kaun die Menschheit aus der Poesie
wieder deu Glanben und das Vertrauen schöpfen:


daß auch die moralisch umgestaltete Erde vou einem und dem¬
selben Geiste doch noch könne göttlich regiert werden." --

Ich bemerke beiläufig, daß die betreffenden Stellen bereits im Original unter¬
strichen sind.

Und wozu diese ganze, weit aussehende Deduction? -- Lediglich um sich zu
rechtfertigen, daß man einen neunbändigen Roman schreibt;-'während das Publicum
einem Dichter, der es neun Bände hindurch zu unterhalten versteht, uur Dank
wissen wird, wenn er nicht früher abbricht, denn es scheidet von jedem Buch, das
es amüsirt, mit Bedauern und Pietät. --

Nur in Deutschland ist es möglich, mit einem so vollständigen Gefasel der
Welt in's Gesicht zu schlagen. Es ist kaum der Mühe werth, näher darauf ein¬
zugehen, doch darf man keine Gelegenheit vorüberlassen, unserm uoch immer viel
zu sehr vou sich selbst eingenommenen Publicum die Schamröthe in's Gesicht zu
rufen über das, was es sich bieten läßt. -- Ich will mich dabei auf die Bilder,
die man bei Gutzkow schon gewohnt ist, z. B. das von dem polemischen Teppich,
während doch nur das Auge, das ihn aus der Vogelperspective betrachtet, polemisch
sein kann, gar nicht einlassen. -- Also der neue Roman soll nicht das Nach¬
einander, sondern das Nebeneinander darstellen. Wie man erzählen kann,
ohne die Snccesflvität der Zeit zu beobachten, ist nicht recht begreiflich, wenn
man nicht annehmen will, Gutzkow meint jene Kunstform, die uus in meäias res
versetzt und das vorher Vorgefallene nachträglich berichtet -- eine Kunstform, die


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glücklich waren, wenn sich ein Mann wie Gutzkow zum Handwerk rechnete, hat
eine solche Selbsttäuschung möglich gemacht.

Auch diesmal ist Gichkow überzeugt, eine neue Phase des Romans herbei¬
geführt zu haben. Er findet, dcH der alte Roman sich auf das „Nacheinander" -
beschränkt habe. „Der neue Roman ist der Roman des Nebeneinander.
Da liegt die ganze Welt! Da liegt die Zeit wie ein ausgespanntes Tuch! Da
begeguen sich Könige und Bettler! Die Menschen, die zu der erzählten Ge¬
schichte gehören, und die, die ihr nur eine wiederstrahlte Beleuchtung
geben. Der Stumme redet nun auch, der Abwesende spielt nun auch mit.
Das, was der Dichter sagen, schildern will, ist oft mir das, was zwischen zween
seiner Schilderungen als ein Drittes, dem Hörer Fühlbares, in Gott Ruhen¬
des, in der Mitte liegt. Nun fällt die Willkür der Erfindung fort. Kein
Abschnitt des Lebens mehr, der ganze, runde, volle Kreis liegt vor uns; der
Dichter baur eine Welt und stellt seine Beleuchtung der der Wirklichkeit gegen¬
über. Er sieht aus der Perspective des in den Lüften schwebenden Adlers herab.
Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, nen, eigen¬
thümlich, leider polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammen¬
gerückt. Resultat: Durch diese Behandlung kaun die Menschheit aus der Poesie
wieder deu Glanben und das Vertrauen schöpfen:


daß auch die moralisch umgestaltete Erde vou einem und dem¬
selben Geiste doch noch könne göttlich regiert werden." —

Ich bemerke beiläufig, daß die betreffenden Stellen bereits im Original unter¬
strichen sind.

Und wozu diese ganze, weit aussehende Deduction? — Lediglich um sich zu
rechtfertigen, daß man einen neunbändigen Roman schreibt;-'während das Publicum
einem Dichter, der es neun Bände hindurch zu unterhalten versteht, uur Dank
wissen wird, wenn er nicht früher abbricht, denn es scheidet von jedem Buch, das
es amüsirt, mit Bedauern und Pietät. —

Nur in Deutschland ist es möglich, mit einem so vollständigen Gefasel der
Welt in's Gesicht zu schlagen. Es ist kaum der Mühe werth, näher darauf ein¬
zugehen, doch darf man keine Gelegenheit vorüberlassen, unserm uoch immer viel
zu sehr vou sich selbst eingenommenen Publicum die Schamröthe in's Gesicht zu
rufen über das, was es sich bieten läßt. — Ich will mich dabei auf die Bilder,
die man bei Gutzkow schon gewohnt ist, z. B. das von dem polemischen Teppich,
während doch nur das Auge, das ihn aus der Vogelperspective betrachtet, polemisch
sein kann, gar nicht einlassen. — Also der neue Roman soll nicht das Nach¬
einander, sondern das Nebeneinander darstellen. Wie man erzählen kann,
ohne die Snccesflvität der Zeit zu beobachten, ist nicht recht begreiflich, wenn
man nicht annehmen will, Gutzkow meint jene Kunstform, die uus in meäias res
versetzt und das vorher Vorgefallene nachträglich berichtet — eine Kunstform, die


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[0091] glücklich waren, wenn sich ein Mann wie Gutzkow zum Handwerk rechnete, hat eine solche Selbsttäuschung möglich gemacht. Auch diesmal ist Gichkow überzeugt, eine neue Phase des Romans herbei¬ geführt zu haben. Er findet, dcH der alte Roman sich auf das „Nacheinander" - beschränkt habe. „Der neue Roman ist der Roman des Nebeneinander. Da liegt die ganze Welt! Da liegt die Zeit wie ein ausgespanntes Tuch! Da begeguen sich Könige und Bettler! Die Menschen, die zu der erzählten Ge¬ schichte gehören, und die, die ihr nur eine wiederstrahlte Beleuchtung geben. Der Stumme redet nun auch, der Abwesende spielt nun auch mit. Das, was der Dichter sagen, schildern will, ist oft mir das, was zwischen zween seiner Schilderungen als ein Drittes, dem Hörer Fühlbares, in Gott Ruhen¬ des, in der Mitte liegt. Nun fällt die Willkür der Erfindung fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze, runde, volle Kreis liegt vor uns; der Dichter baur eine Welt und stellt seine Beleuchtung der der Wirklichkeit gegen¬ über. Er sieht aus der Perspective des in den Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, nen, eigen¬ thümlich, leider polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammen¬ gerückt. Resultat: Durch diese Behandlung kaun die Menschheit aus der Poesie wieder deu Glanben und das Vertrauen schöpfen: daß auch die moralisch umgestaltete Erde vou einem und dem¬ selben Geiste doch noch könne göttlich regiert werden." — Ich bemerke beiläufig, daß die betreffenden Stellen bereits im Original unter¬ strichen sind. Und wozu diese ganze, weit aussehende Deduction? — Lediglich um sich zu rechtfertigen, daß man einen neunbändigen Roman schreibt;-'während das Publicum einem Dichter, der es neun Bände hindurch zu unterhalten versteht, uur Dank wissen wird, wenn er nicht früher abbricht, denn es scheidet von jedem Buch, das es amüsirt, mit Bedauern und Pietät. — Nur in Deutschland ist es möglich, mit einem so vollständigen Gefasel der Welt in's Gesicht zu schlagen. Es ist kaum der Mühe werth, näher darauf ein¬ zugehen, doch darf man keine Gelegenheit vorüberlassen, unserm uoch immer viel zu sehr vou sich selbst eingenommenen Publicum die Schamröthe in's Gesicht zu rufen über das, was es sich bieten läßt. — Ich will mich dabei auf die Bilder, die man bei Gutzkow schon gewohnt ist, z. B. das von dem polemischen Teppich, während doch nur das Auge, das ihn aus der Vogelperspective betrachtet, polemisch sein kann, gar nicht einlassen. — Also der neue Roman soll nicht das Nach¬ einander, sondern das Nebeneinander darstellen. Wie man erzählen kann, ohne die Snccesflvität der Zeit zu beobachten, ist nicht recht begreiflich, wenn man nicht annehmen will, Gutzkow meint jene Kunstform, die uus in meäias res versetzt und das vorher Vorgefallene nachträglich berichtet — eine Kunstform, die 76*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/91>, abgerufen am 30.06.2024.