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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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glomm im Wesentlichen fest, ohne darüber einseitig zu werden, im Gegentheil
bringt diese philosophische Betrachtung eine fast zu weit gehende Toleranz mit
sich. -- Die Schrift macht keinen Anspruch auf wissenschaftliche Gründlichkeit, sie
ist ans den Laien berechnet, und mehr philosophisch-constructiv, als historisch¬
kritisch gehalten. Sie soll "einen sichern Leitfaden abgeben, um das weite Ge¬
biet der Religion nicht als einen Irrsaal menschlicher Vorurtheile und abergläu¬
bischer Meinungen zu betrachte", sondern in der Entstehung und innern Ent¬
wicklung der Religionen die waltende Vernunft des Weltgeistes als den einheitlichen
Faden zu entdecken, der die Religionen der Menschheit und ihre Geschichte zu
einem planvollen Lebenöganzen verbindet." Daß eine solche philosophische Con-
struction der Geschichte aus dem vorgefundenen Material mit der vorgefaßten
Ueberzeugung, daß der Lauf der Dinge ein vernünftiger sein müsse, sein Mißliches
hat, und daß ein eingestanden erbaulicher Zweck die wissenschaftliche Sicherheit
nicht eben fördert, wird dem Kenner nicht unbekannt sein; für das große Publi-
cum ist aber das Werk als ein gebildetes, Vorurtheilsfreies Räsonnement über
den Laus der Geschichte und als ein wesentlicher Beitrag zur Aufklärung zu
empfehlen. --

Der "deutsche Philosoph" steht mehr rechts; uach deu Worten der Einleitung:


Und durch die Klage hör' ich hell erschallen
Wie Glockenklang, der Gotteöstiinnie Laut:
Weil ihr vom Herrn des Lebens abgefallen,
Ihr seinen Lebenshauch verschmähet habt,
Ward nach Verdienst ein Loos zu Theil euch allen.
Weil euch der Selbstsucht Taumelbecher labt,
Sinne Jeder nur, wie er das Seine finde,
Dünkt Jeder keck zu Allein sich begabt,
Und in des Erdendaseins Jrrgewinde
sucht er des Himmels Frieden sich allein:
Erkennt ihr, wie ihr Knechte seid der Sünde'? U. s. w.

-- sollte matt schließen, er habe einen starken Anstrich von Rechtgläubigkeit und
Pietismus, aber dem ist nicht so, es ergiebt sich nachher, daß das alles nnr
bildlich zu verstehen sei, und daß der Redner die "Reaction" ebenso bekämpft
als die "Anarchie." -- In formeller Beziehung hat er gegen den "Theologen"
den großen Nachtheil, daß sein Stoff sich nicht selber eine Form schafft; es sind
vermischte Betrachtungen über verschiedene Gegenstände, die sich mehr oder
minder ans Religion beziehen, bald in Prosa, bald in Versen, mit vielen ein-
gestreuten Citaten ans Dichtern und Prosaikern, Kerkergedanken eines deutschen
Republikaners n. s. w. Es ist eigentlich Schade, daß der Verfasser, dem eine
edle poetische Sprache und eine leichte Versisication zu Gebote steht, uicht aus
dem Ganzen ein didaktisches Gedicht gemacht hat, wie es bei den Engländern



^) ES ist nicht deutlich, ob sich dieses "allein" auf "Erdendasein" oder auf "sich,
bezieht.

glomm im Wesentlichen fest, ohne darüber einseitig zu werden, im Gegentheil
bringt diese philosophische Betrachtung eine fast zu weit gehende Toleranz mit
sich. — Die Schrift macht keinen Anspruch auf wissenschaftliche Gründlichkeit, sie
ist ans den Laien berechnet, und mehr philosophisch-constructiv, als historisch¬
kritisch gehalten. Sie soll „einen sichern Leitfaden abgeben, um das weite Ge¬
biet der Religion nicht als einen Irrsaal menschlicher Vorurtheile und abergläu¬
bischer Meinungen zu betrachte«, sondern in der Entstehung und innern Ent¬
wicklung der Religionen die waltende Vernunft des Weltgeistes als den einheitlichen
Faden zu entdecken, der die Religionen der Menschheit und ihre Geschichte zu
einem planvollen Lebenöganzen verbindet." Daß eine solche philosophische Con-
struction der Geschichte aus dem vorgefundenen Material mit der vorgefaßten
Ueberzeugung, daß der Lauf der Dinge ein vernünftiger sein müsse, sein Mißliches
hat, und daß ein eingestanden erbaulicher Zweck die wissenschaftliche Sicherheit
nicht eben fördert, wird dem Kenner nicht unbekannt sein; für das große Publi-
cum ist aber das Werk als ein gebildetes, Vorurtheilsfreies Räsonnement über
den Laus der Geschichte und als ein wesentlicher Beitrag zur Aufklärung zu
empfehlen. —

Der „deutsche Philosoph" steht mehr rechts; uach deu Worten der Einleitung:


Und durch die Klage hör' ich hell erschallen
Wie Glockenklang, der Gotteöstiinnie Laut:
Weil ihr vom Herrn des Lebens abgefallen,
Ihr seinen Lebenshauch verschmähet habt,
Ward nach Verdienst ein Loos zu Theil euch allen.
Weil euch der Selbstsucht Taumelbecher labt,
Sinne Jeder nur, wie er das Seine finde,
Dünkt Jeder keck zu Allein sich begabt,
Und in des Erdendaseins Jrrgewinde
sucht er des Himmels Frieden sich allein:
Erkennt ihr, wie ihr Knechte seid der Sünde'? U. s. w.

— sollte matt schließen, er habe einen starken Anstrich von Rechtgläubigkeit und
Pietismus, aber dem ist nicht so, es ergiebt sich nachher, daß das alles nnr
bildlich zu verstehen sei, und daß der Redner die „Reaction" ebenso bekämpft
als die „Anarchie." — In formeller Beziehung hat er gegen den „Theologen"
den großen Nachtheil, daß sein Stoff sich nicht selber eine Form schafft; es sind
vermischte Betrachtungen über verschiedene Gegenstände, die sich mehr oder
minder ans Religion beziehen, bald in Prosa, bald in Versen, mit vielen ein-
gestreuten Citaten ans Dichtern und Prosaikern, Kerkergedanken eines deutschen
Republikaners n. s. w. Es ist eigentlich Schade, daß der Verfasser, dem eine
edle poetische Sprache und eine leichte Versisication zu Gebote steht, uicht aus
dem Ganzen ein didaktisches Gedicht gemacht hat, wie es bei den Engländern



^) ES ist nicht deutlich, ob sich dieses „allein" auf „Erdendasein" oder auf „sich,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/82>, abgerufen am 25.08.2024.