Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.Die reflectirende Lyrik hat in England, Frankreich und Deutschland in un¬
Grenzboten. IV. 1850.74
Die reflectirende Lyrik hat in England, Frankreich und Deutschland in un¬
Grenzboten. IV. 1850.74
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0073" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/92362"/> <p xml:id="ID_223"> Die reflectirende Lyrik hat in England, Frankreich und Deutschland in un¬<lb/> sern! Jahrhundert so überHand genommen, daß ein rüstiger Geist, der nach<lb/> Ursprünglichkeit strebt, leicht zu einem gewissen Raffinement verführt wird, wenn<lb/> nicht in den Empfindungen, so doch in der Form. Auch England ist durch die<lb/> Blasphemien Shelley's, Byron's, Bailey's und der übrigen Dichter der diaboli¬<lb/> schen Schule in so ungewohnte Vorstellungen gedrängt worden, daß anch die<lb/> Vertreter der alten, hergebrachten, historischen Gemüthswelt sich nicht mehr in<lb/> dem alten Geleise bewegen können. Tennyson's Sprache enthält Kühnheiten,<lb/> vor denen Pope und Addison erschrecken würden; aber von der Maßlosigkeit der<lb/> neuen Romantiker ist keine Rede. Auch seiue Opposition gegen die Frivolität<lb/> des Zeitalters überschreitet uicht die Greuze des schönen; er weiß so gut wie<lb/> Uhland und seiue Jünger die alten epheuumkränzten Ritterburgen zu besingen,<lb/> Ulld in ihren dunkeln Mauern blondhaarige Nitierfränlein zu träumen; aber er<lb/> ist in seinen Phantasien nicht herausfordernd, er will das Mittelalter und seiue<lb/> Feudalrechte uicht wieder Herstellen, er führt uicht Krieg gegen die Eisenbahnen<lb/> und die Dampfmaschinen, er schwärmt uicht für die Poesie der Straßenräuber<lb/> und der Hexenprocesse, sein Gemüth lebt in der Menschheit, und was diese<lb/> erleichtert und fördert, ist ihm willkommen. Auch in dem religiösen Sinn, durch<lb/> welchen er den Sturm und Drang eiues skeptischen Denkens, eiuer überreizten<lb/> Phantasie überwindet, ist keine Bigotterie, sein Gott ist uicht der Gott des<lb/> Schreckens, vor dem die Gläubigen und die Teufel zittern, es besteht vielmehr<lb/> zwischen ihm und seinem Anbeter ein gemüthliches Verhältniß, das mit der Freude'<lb/> des Lebeus uicht unerträglich ist. In seiner Naturanschauung ist endlich hin¬<lb/> länglich Mystik, um die blos descriptive Thätigkeit zu beleben, und dabei doch<lb/> wieder genug plastischer Sinn, um das Verschwimmen in's Formlose zu verhüten.<lb/> Er sieht das Einzelne mit guten Augen, und läßt ihm seine bestimmte Gestalt,<lb/> auch wenn er es zuerst verklärt, und selbst sein Spiritualismus fügt sich dem<lb/> Gesetz der Natur. sein Mysticismus hat immer eine naturalistische Basis, wie<lb/> die Sehnsucht der heiligen Agnes nach dem Himmel, die sich so plastisch aus¬<lb/> spricht, daß sie Mignon'ö uicht unwürdig wäre:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_3" type="poem"> <l> Lreilli, up elle Keavens, on I^ora! »na f«r<lb/> Itirougli all ^on stsrliglit Keen<lb/> ora^v me, er^ britje, s glitterinZ sehr,<lb/> In raiment ^Iiito «na olesn.</l> </lg> </quote><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. IV. 1850.74</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0073]
Die reflectirende Lyrik hat in England, Frankreich und Deutschland in un¬
sern! Jahrhundert so überHand genommen, daß ein rüstiger Geist, der nach
Ursprünglichkeit strebt, leicht zu einem gewissen Raffinement verführt wird, wenn
nicht in den Empfindungen, so doch in der Form. Auch England ist durch die
Blasphemien Shelley's, Byron's, Bailey's und der übrigen Dichter der diaboli¬
schen Schule in so ungewohnte Vorstellungen gedrängt worden, daß anch die
Vertreter der alten, hergebrachten, historischen Gemüthswelt sich nicht mehr in
dem alten Geleise bewegen können. Tennyson's Sprache enthält Kühnheiten,
vor denen Pope und Addison erschrecken würden; aber von der Maßlosigkeit der
neuen Romantiker ist keine Rede. Auch seiue Opposition gegen die Frivolität
des Zeitalters überschreitet uicht die Greuze des schönen; er weiß so gut wie
Uhland und seiue Jünger die alten epheuumkränzten Ritterburgen zu besingen,
Ulld in ihren dunkeln Mauern blondhaarige Nitierfränlein zu träumen; aber er
ist in seinen Phantasien nicht herausfordernd, er will das Mittelalter und seiue
Feudalrechte uicht wieder Herstellen, er führt uicht Krieg gegen die Eisenbahnen
und die Dampfmaschinen, er schwärmt uicht für die Poesie der Straßenräuber
und der Hexenprocesse, sein Gemüth lebt in der Menschheit, und was diese
erleichtert und fördert, ist ihm willkommen. Auch in dem religiösen Sinn, durch
welchen er den Sturm und Drang eiues skeptischen Denkens, eiuer überreizten
Phantasie überwindet, ist keine Bigotterie, sein Gott ist uicht der Gott des
Schreckens, vor dem die Gläubigen und die Teufel zittern, es besteht vielmehr
zwischen ihm und seinem Anbeter ein gemüthliches Verhältniß, das mit der Freude'
des Lebeus uicht unerträglich ist. In seiner Naturanschauung ist endlich hin¬
länglich Mystik, um die blos descriptive Thätigkeit zu beleben, und dabei doch
wieder genug plastischer Sinn, um das Verschwimmen in's Formlose zu verhüten.
Er sieht das Einzelne mit guten Augen, und läßt ihm seine bestimmte Gestalt,
auch wenn er es zuerst verklärt, und selbst sein Spiritualismus fügt sich dem
Gesetz der Natur. sein Mysticismus hat immer eine naturalistische Basis, wie
die Sehnsucht der heiligen Agnes nach dem Himmel, die sich so plastisch aus¬
spricht, daß sie Mignon'ö uicht unwürdig wäre:
Lreilli, up elle Keavens, on I^ora! »na f«r
Itirougli all ^on stsrliglit Keen
ora^v me, er^ britje, s glitterinZ sehr,
In raiment ^Iiito «na olesn.
Grenzboten. IV. 1850.74
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |