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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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-- ein Standpunkt, der für den Kritiker sehr beqnem ist, weil man von ihm
aus ziemlich alle diejenigen, die sich in den letzten Jahren mit Politik beschäftigt
haben, als Narren und Einfaltspinsel darstellen kann.

Ans eine Frage werden uns die Anhänger der Abendpost die Antwort
wohl immer schuldig bleiben. Gesetzt, ihr Ziel, die Absorption alles Staatslebens
in kündbare Privatverträge, wäre das höchste Ziel aller Politik -- auf welchem
Wege gedenken sie dieses Ziel zu verfolgen? -- Einer ihrer Propheten, Max
Stirner, behauptete vor den Märztagen, eine Revolution werde uicht mehr er¬
folgen, denn eine solche vertiefe die Menschheit nnr immer noch mehr in jene
Staatsinteressen, denen man sich eben entwinden müsse; dagegen werde eine
allgemeine "Empörung" stattfinden. Das ist aber ein leeres Spiel des Witzes,
denn allgemeine Empörung und Revolution ist identisch. -- Da der Staat ein¬
mal ein thatsächliches Verhältniß ist, so kauu man, um ihn loszuwerden, nur
zwei Wege einschlagen: entweder den der gesetzlichen Thätigkeit, wo man die vom
Staat gegebenen Organe gegen ihn selber benützt, oder den der Revolution.
Der letzte scheint der zweckwidrige zu sein, denn jede Revolution verstärkt die
Energie des politischen Bewußtseins und die Herrschsucht der Sieger, und die
letztern -- welcher Partei sie auch angehören mögen -- werden schwerlich ge¬
neigt sein, den Interessen jene vollständige Autonomie zu lassen, welche die Frei¬
händler fordern. -- Der constitnti"nelle Weg bliebe also anch für die Abendpost
der rathsamste, gleichviel, ob sie mit dem Princip des constitutionellen Staats
übereinstimmt oder nicht. -- Den Staat zu ignoriren, wäre der Weg des
Straußes, welcher der Kugel des Jägers zu entgehen glaubt, wenn er den
Kopf versteckt.

Aber die Freihändler werdeu auch uach ihrem Sieg über den Staat daran
denken müssen, die alte Ordnung der Dinge dnrch eine neue zu ersetzen, denn
die Ueberzeugung, daß der Grundsatz, auf den sie ihr System banen: die In¬
teressen, richtig verstanden, widersprechen sich nie, an zwei Grundfehlern leidet,
wird sich ihnen bald handgreiflich aufdrängen. Der erste Grundfehler ist, daß
er nicht wahr ist: denn wenn zwei Schiffbrüchige ans einem Balken sitzen, der
nnr einen von ihnen tragen kann, so widersprechen sich ihre Interessen allerdings;
der zweite, daß er nicht ausreichte, auch wenn er wahr wäre: denn die Menschen
werden uicht blos durch die Interessen bestimmt, sondern ebenso dnrch Leiden¬
schaften und durch Ideen; ohne diese abzuschaffen, wird man den ewigen Frieden
unter den Menschen nicht herstellen, wird man also eine staatliche Ordnung zur
Ausgleichung dieser Differenzen nicht entbehren können.

Wenn aber der Grundsatz für die Praxis nicht geeignet ist, so giebt er da¬
für dem Kritiker jene Vogelperspective, das Gewühl der thätigen Menschen in
seiner Nullität zu betrachten -- freilich anch in unrichtigen Verhältnissen. Denn
in Verhältniß zu diesem unnahbaren Princip gestellt, wird jede politische Thätig-


— ein Standpunkt, der für den Kritiker sehr beqnem ist, weil man von ihm
aus ziemlich alle diejenigen, die sich in den letzten Jahren mit Politik beschäftigt
haben, als Narren und Einfaltspinsel darstellen kann.

Ans eine Frage werden uns die Anhänger der Abendpost die Antwort
wohl immer schuldig bleiben. Gesetzt, ihr Ziel, die Absorption alles Staatslebens
in kündbare Privatverträge, wäre das höchste Ziel aller Politik — auf welchem
Wege gedenken sie dieses Ziel zu verfolgen? — Einer ihrer Propheten, Max
Stirner, behauptete vor den Märztagen, eine Revolution werde uicht mehr er¬
folgen, denn eine solche vertiefe die Menschheit nnr immer noch mehr in jene
Staatsinteressen, denen man sich eben entwinden müsse; dagegen werde eine
allgemeine „Empörung" stattfinden. Das ist aber ein leeres Spiel des Witzes,
denn allgemeine Empörung und Revolution ist identisch. — Da der Staat ein¬
mal ein thatsächliches Verhältniß ist, so kauu man, um ihn loszuwerden, nur
zwei Wege einschlagen: entweder den der gesetzlichen Thätigkeit, wo man die vom
Staat gegebenen Organe gegen ihn selber benützt, oder den der Revolution.
Der letzte scheint der zweckwidrige zu sein, denn jede Revolution verstärkt die
Energie des politischen Bewußtseins und die Herrschsucht der Sieger, und die
letztern — welcher Partei sie auch angehören mögen — werden schwerlich ge¬
neigt sein, den Interessen jene vollständige Autonomie zu lassen, welche die Frei¬
händler fordern. — Der constitnti»nelle Weg bliebe also anch für die Abendpost
der rathsamste, gleichviel, ob sie mit dem Princip des constitutionellen Staats
übereinstimmt oder nicht. — Den Staat zu ignoriren, wäre der Weg des
Straußes, welcher der Kugel des Jägers zu entgehen glaubt, wenn er den
Kopf versteckt.

Aber die Freihändler werdeu auch uach ihrem Sieg über den Staat daran
denken müssen, die alte Ordnung der Dinge dnrch eine neue zu ersetzen, denn
die Ueberzeugung, daß der Grundsatz, auf den sie ihr System banen: die In¬
teressen, richtig verstanden, widersprechen sich nie, an zwei Grundfehlern leidet,
wird sich ihnen bald handgreiflich aufdrängen. Der erste Grundfehler ist, daß
er nicht wahr ist: denn wenn zwei Schiffbrüchige ans einem Balken sitzen, der
nnr einen von ihnen tragen kann, so widersprechen sich ihre Interessen allerdings;
der zweite, daß er nicht ausreichte, auch wenn er wahr wäre: denn die Menschen
werden uicht blos durch die Interessen bestimmt, sondern ebenso dnrch Leiden¬
schaften und durch Ideen; ohne diese abzuschaffen, wird man den ewigen Frieden
unter den Menschen nicht herstellen, wird man also eine staatliche Ordnung zur
Ausgleichung dieser Differenzen nicht entbehren können.

Wenn aber der Grundsatz für die Praxis nicht geeignet ist, so giebt er da¬
für dem Kritiker jene Vogelperspective, das Gewühl der thätigen Menschen in
seiner Nullität zu betrachten — freilich anch in unrichtigen Verhältnissen. Denn
in Verhältniß zu diesem unnahbaren Princip gestellt, wird jede politische Thätig-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/63>, abgerufen am 28.07.2024.